Überlebende schauen zu, wie nach dem Untergang eines Flüchtlingsschiffes Todesopfer in Valetta an Land gebracht werden. Derweil diskutiert die Politik über den weiteren Umgang mit den Flüchtlingsbewegungen.

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Außenbeauftragte Federica Mogherini bei einer Schweigeminute.

Foto: AP Photo/Thierry Monasse

Rom/Tripolis/Brüssel – Nach dem Untergang eines Flüchtlingsschiffs in der Nacht von Samstag auf Sonntag im Mittelmeer gehen die Vereinten Nationen nun von etwa 800 Todesopfern aus. "Man kann sagen, dass 800 Menschen gestorben sind", sagte die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Italien, Carlotta Sami, am Dienstag im sizilianischen Catania. Der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo, bestätigte diese Schätzung.

Die UN-Vertreter hatten zuvor mit den meisten der 27 Überlebenden des Unglücks gesprochen, die in der Nacht nach Catania gebracht worden waren. Demnach waren auch Kinder an Bord des Unglücksschiffs gewesen.

Kapitän festgenommen

Die italienische Polizei nahm unterdessen den tunesischen Kapitän und ein syrisches Besatzungsmitglied des vor der libyschen Küste gekenterten Flüchtlingsschiffs fest. Sie waren unter den 27 der 28 Überlebenden der Katastrophe, die am späten Montagabend im Hafen der sizilianischen Stadt Catania eintrafen. Wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa in der Nacht auf Dienstag berichtete, wirft ihnen die Staatsanwaltschaft mehrfache fahrlässige Tötung, Menschenhandel und Schiffbruch vor.

Die beiden seien von anderen Überlebenden identifiziert worden, sagte der zuständige Staatsanwalt Giovanni Salvi. Auch der Flüchtling aus Bangladesch, der im Krankenhaus von Catania liegt, habe sie auf Fotos erkannt. Die Überlebenden waren an Bord der "Gregoretti" der italienischen Küstenwache nach Sizilien gebracht worden. Dort empfing sie Verkehrsminister Graziano Delrio.

An Bord des Flüchtlingsschiffs, das in der Nacht zum Sonntag gekentert war, sollen nach Angaben eines Überlebenden bis zu 950 Menschen gewesen sein. 28 wurden gerettet, 24 Leichen wurden geborgen. Das etwa 20 Meter lange Flüchtlingsschiff war rund 110 Kilometer vor der Küste Libyens und in rund 200 Kilometern Entfernung von der italienischen Insel Lampedusa in Seenot geraten und gekentert.

Nach Angaben eines Überlebenden, der vor der Ankunft der übrigen Überlebenden in Catania ins Krankenhaus eingeliefert worden war, befanden sich sogar 950 Flüchtlinge an Bord, darunter 50 Kinder und 200 Frauen. Die Schlepper hätten viele von ihnen im Frachtraum eingesperrt.

"Schlimmstes Massensterben im Mittelmeer"

Nach dem Kentern des Flüchtlingsboots vor Libyen in der Nacht auf Sonntag hatte das UNHCR zunächst von etwa 700 Todesopfern gesprochen. Damals hatte Sami bereits gesagt, sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre es das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde".

Schulz fordert europäische Quotenregelung

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz fordert mehr Möglichkeiten zur legalen Einwanderung und eine europäische Quotenregelung für die Aufnahme von Flüchtlingen. "Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir weitere solche Tragödien erleben", sagte der deutsche SPD-Politiker der "Passauer Neuen Presse".

EU-Pläne: Mehr Schiffe im Einsatz

Als Reaktion auf die jüngsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer will die Europäische Union die Seenothilfe massiv ausweiten. Bei einem Krisentreffen der Außen- und Innenminister am Montag in Luxemburg wurden Pläne für die Verdoppelung der Mittel für die EU-Programme Triton und Poseidon auf den Weg gebracht. Sie sollen den Einsatz von deutlich mehr Schiffen ermöglichen und noch am Donnerstag auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs vorgelegt werden.

Neben der Ausweitung der Seenotrettung könnten künftig gezielt von Schleppern genutzte Schiffe beschlagnahmt und zerstört werden. Vorbild sei die militärische Anti-Piraterie-Mission Atalanta am Horn von Afrika, sagte der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos in Luxemburg bei der Vorstellung eines Zehn-Punkte-Plans. Atalanta begleitet nicht nur zivile Schiffe, sondern zerstörte mehrfach auch Piratenlager. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, das Ansehen Europas stehe auf dem Spiel. Viel zu oft sei gesagt worden: "Nie wieder".

UN-Vertreter: Anhaltendes Politikversagen

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte hatte die EU zuvor ungewöhnlich scharf kritisiert. Die Hunderten von Toten seien das Ergebnis eines anhaltenden Politikversagens und eines "monumentalen Mangels an Mitgefühl", sagte Said Raad al-Hussein am Montag in Genf. Statt nach sinnlosen strengeren Abschottungsmaßnahmen zu rufen, müsse die EU endlich legale Fluchtwege und mehr Rettungskapazitäten für das Mittelmeer bereitstellen.

Transitland Libyen

Das Bürgerkriegsland Libyen ist derzeit ein Haupttransitland. Seit Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 mit Unterstützung des Westens gestürzt wurde, rivalisieren in Libyen islamistische Milizen und nationalistische Kräfte gewaltsam um Macht und Einfluss. Es gibt keine funktionierenden Grenzkontrollen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Palermo auf Sizilien warten in Libyen bis zu eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Europa.

Sondergipfel am Donnerstag

Am Donnerstag werden auf Vorschlag des italienischen Premiers Matteo Renzi die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zu einem Sondergipfel zusammenkommen. Das gab EU-Ratspräsident Donald Tusk am Montag auf Twitter bekannt.

Kein italienischer Notfall

Italiens Außenminister Paolo Gentiloni verlangte mehr europäische Unterstützung bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme. "Wir müssen anerkennen, dass wir einen europäischen Notstand haben. Es ist nicht ein italienischer Notfall", sagte Gentiloni. Der österreichische EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik, Johannes Hahn, stimmte ihm zu, dass auch die EU-Staaten "in erheblichen Maße gefordert" seien. Es sei dies "ein Problem, das nicht nur Malta und Italien betrifft", sondern alle EU-Staaten.

Auch Schwedens Außenministerin Margot Wallström sagte am Montag bei einem regulären Außenministertreffen in Luxemburg, die EU-Mitgliedsstaaten müssen die Verantwortlichkeiten bei der Rettung von Flüchtlingen in einer gerechteren Art und Weise teilen.

Weltweit tödlichsten Route

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat die Weltgemeinschaft aufgefordert, die Flüchtlingskrise gemeinsam zu schultern. Ban sei "schockiert und zutiefst traurig" über den jüngsten Untergang eines Schiffs, teilte sein Sprecher am Sonntag (Ortszeit) in New York in einer Erklärung mit.

Der UN-Generalsekretär rufe "die internationale Gemeinschaft zu Solidarität und Lastenverteilung angesichts dieser Krise" auf. Das Mittelmeer habe sich zur "weltweit tödlichsten Route" von Flüchtlingen entwickelt, kritisierte Ban. Die Regierungen müssten nun nicht nur die Rettungseinsätze auf hoher See verbessern, sondern auch "das Asylrecht für die wachsende Zahl von Menschen sicherstellen, die in aller Welt vor Krieg fliehen, die Zuflucht und einen sicheren Ort brauchen".

Papst Franziskus hat die internationale Gemeinschaft in Rom vor zehntausenden Gläubigen zu "entschiedenem Handeln" aufgefordert, um ähnliche Tragödien in Zukunft zu verhindern.

Vorwurf der Weltfremdheit

In Österreich sagte Kanzler Faymann bei der SPÖ-Klubklausur am Montag: "Man kann nicht wegschauen, wenn das Mittelmeer zu einem riesigen Grab wird." Auch er erkenne eine gesamteuropäische Aufgabe. Hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen habe Österreich aber bereits einen maßgeblichen Solidarbeitrag geleistet. "Bei einer gerechteren Verteilung haben andere einen größeren Nachholbedarf", sagte der Kanzler gegenüber Journalisten.

Den Plan von Innenminister Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), mehr UNHCR-Flüchtlingsaufnahmezentren direkt in Nordafrika zu errichten und dort über Asylanträge zu entscheiden, nannte Diakonie-Direktor Michael Chalupka "weltfremd". "Es mangelt der Welt nicht an überfüllten Flüchtlingslagern, sondern an Staaten, die bereit sind, namhafte Zahlen von Flüchtlingen aufzunehmen", erklärte Chalupka in einer Aussendung.

Für das UNHCR selbst sind Flüchtlingslager in Nordafrika "für den Moment unrealistisch", sagt die Sprecherin der von UNHCR Österreich, Ruth Schöffl. Stattdessen brauche es eine Ausdehnung der Rettungsprogramme.

"Die Politik der europäischen Regierungen, die Aktion 'Mare Nostrum' einzustellen, hat, wie zu erwarten war, zu hunderten Toten geführt. Eine Politik, die mit dem Tod von Menschen als Mittel der Abschreckung rechnet, ist verantwortungs- und gewissenlos", kritisierte Chalupka.

"Verbrecherische Gewinnsucht"

Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, warnte, dass es bei immer geringeren Ressourcen für die Such- und Rettungsaktionen immer mehr Tote geben werde: "Es muss jetzt die absolute Priorität aller EU-Mitgliedstaaten werden, Menschenleben zu retten."

"Der Schutz und die Rettung eines jeden einzelnen Menschenlebens muss die zentrale Aufgabe sein," forderte der SPÖ-Abgeordnete zum EU-Parlament und Menschenrechtssprecher Josef Weidenholzer, der auch der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament ist.

Der grüne EU-Abgeordnete Michel Reimon machte auch das Ende der italienischen Seerettungsmission "Mare Nostrum" für die Schiffsunglücke verantwortlich. "Neue legale Aufnahmeverfahren" forderte ÖVP-Europaparlamentarier Heinz Becker. Diese sollten Schleppern "den Nährboden entziehen"

Auch Bundespräsident Heinz Fischer ist erschüttert über die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer: "Dieses unglaublich tragische Ereignis, hinter dem vermutlich eine verbrecherische Gewinnsucht steckt, hat nun endgültig die Flüchtlingsfrage zur unaufschiebbaren Aufgabe der europäischen Politik gemacht", sagte der Bundespräsident am Montag in einer Aussendung."

"Nicht mehr wegschauen"

Die Bürgermeisterin des oftmaligen Flüchtlingsziels Lampedusa, Giusi Nicolini, rechnet mit weiteren Tragödien. "Wer vor einem brennenden Haus flüchten muss, tut alles, um sich zu retten. Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof geworden, und Italien ist sich selbst überlassen", sagte die Bürgermeisterin. Das Stadtoberhaupt von Palermo, Leoluca Orlando, erklärte, dass die toten Flüchtlinge auf Brüssels Gewissen lasteten. "Die EU kann nicht mehr wegschauen", sagte Orlando. "Ganze Bevölkerungen" würden sich derzeit in Bewegung setzen. Die Einrichtung humanitärer Korridore sei notwendig, um weitere Flüchtlingsboote zu verhindern.

Die rechtspopulistische Oppositionspartei Lega Nord drängte dagegen zu einer internationalen Schiffsblockade vor Libyen, um die Abfahrt der Flüchtlingsboote zu verhindern. "Man muss die Flüchtlingsfahrten stoppen, nur so kann man weitere Tragödien verhindern", sagte Lega-Chef Matteo Salvini. (APA/red, 21.4.2015)