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Tuncay Çaliskan (in Blau) bei seinem zweiten Kampf während der Olympischen Spiele 2004 in Athen. Çaliskan verlor, der Kampf davor hatte ihn psychisch und physisch zu sehr mitgenommen.

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Çaliskan ist Personalcoach in einem Fitnessstudio.

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Wien – "Das war sehr schlimm", sagt Tuncay Çaliskan. Er mag eigentlich nicht darüber reden, was an jenem Sonntagmorgen im November 2006 in einer Polizeiwachstube in Wien vorgefallen ist. Çaliskan, Österreicher, gebürtiger Türke, war von einem Unbekannten mit einem Baseballschläger bedroht und mit dem Auto verfolgt worden. So erzählt er es den Polizisten in der Wachstube. Er wollte Anzeige erstatten. Die Beamten sahen keinen Tatbestand. Çaliskan habe auf sie nicht ängstlich gewirkt. Als "Scheißkanak" und "Tschusch" hätten sie ihn stattdessen beschimpft. Vorwurf: Amtsmissbrauch, Beleidigung. Der Fall landet vor Gericht. Im April 2010 fällt das Urteil: bedingte Haft für zwei Polizisten, eine Geldstrafe für einen dritten Beamten.

"Die Richterin war toll", sagt Çaliskan heute. Der ehemaligen Innenministerin Liese Prokop ist er dankbar. Die zu Silvester 2006 verstorbene Politikerin habe den Fall beschleunigt, die Sache hatte ihn mitgenommen. "Damals wollten wir weg", sagt Çaliskan (38), verheiratet und Vater eines dreijährigen Sohnes. Er ist geblieben, wohnt in Wien-Oberlaa, arbeitet seit mehr als sechs Jahren als selbstständiger Personal-Trainer in einem Fitnesscenter im ersten Wiener Gemeindebezirk. "Wenn ich fleißig bin, verdiene ich gut." Çaliskan betreut 26 Kunden. Er legt das Training eher gesundheitlich an. "Ich bin Spezialist in Bewegung."

Taekwondo ist kein Sport für Unbewegliche. "Kunst des Fuß- und Handkampfes" bedeutet der Name der asiatischen Kampfsportart. Bertrand Gbongou Liango war kein großer Künstler seines Fachs. Ein "Holzhacker", wie Çaliskan es ausdrückt.

Traumatischer Kampf

27. August 2004, Faliro Sports Pavillon, Athen, Olympische Spiele, Taekwondo, Kategorie bis 68 Kilogramm, erste Runde: Tuncay Çaliskan (27) Österreich, blauer Kopf- und Körperschutz, gegen Bertrand Gbongou Liango (22), Zentralafrika, roter Kopf- und Körperschutz. Çaliskan, elf Monate davor WM-Dritter, war klarer Favorit. "Endlich hatte ich eine Superauslosung. Ich habe gespürt, das ist mein Tag." Vier Jahre davor in Sydney hatte er als Vierter die Olympiamedaille knapp verpasst. Das Ziel war also klar. Aber der Kampf gegen Gbongou lief nicht nach Plan. Der Afrikaner kämpfte wild, unorthodox. Er traf Çaliskan am Knie – folgenschwer, wie sich später herausstellen sollte. Der Österreicher geriet in Rückstand, änderte seine Taktik.

"Ich dachte, jetzt schlage ich ihn k. o." Es sei eigentlich nicht seine bevorzugte Art zu gewinnen gewesen. Çaliskan, der Bewegungskünstler, packt seinen Momdol yo-Chagi, einen Drehkicktritt, aus. Kopftreffer. Volltreffer. Gbongou geht zu Boden. "Ich dachte, nach fünf Sekunden steht er wieder auf." Gbongou stand nicht auf, war bewusstlos, zwei Minuten lang. Der Zentralafrikaner wurde ins Spital gebracht. "Das hat mich geschockt", sagte Çaliskan damals. Sein Wettkampf ging trotzdem weiter – mit ungutem Gefühl und gerissenem Kreuzband. Es war nicht der Tag des Tuncay Çaliskan. In seinem zweiten Kampf unterliegt er dem Taiwaner Huang Csih Hsiung, in der Trostrunde dem Ägypter Tamer Hussein. Der Traum von der Medaille war geplatzt. Immerhin – aus dem Spital kam eine gute Nachricht. Gbongou war okay. Einen Tag später trafen sich die beiden Kontrahenten. "Ich bin sehr froh, dass nichts passiert ist", sagte Çaliskan damals. Heute sagt er: "Eigentlich bin ich schwerer k. o. gegangen als er."

Knie beendete Karriere

2008 in Peking hätte es der Wiener gern noch einmal probiert. Das Knie machte nicht mit. Olympia 2004 sollte sein letzter Auftritt als Taekwondo-Kämpfer gewesen sein. Dreimal wurde Çaliskans linkes Knie, in dem das hintere Kreuzband gerissen war, operiert. Erst der letzte Eingriff glückte optimal. Aber die Beweglichkeit reichte nicht mehr aus. Die Karriere war beendet.

"Fast war ich vollendet", sagt Çaliskan. "Ich habe als erster Österreicher eine WM-Medaille gewonnen und ich habe mich zweimal für Olympia qualifiziert – als einer von drei bzw. vier Europäer, und das ohne Trainer." Mit dem damaligen Bundestrainer und dem nationalen Verband hatte Çaliskan kein gutes Verhältnis, er übersiedelte nach Innsbruck. "Vom Verband hatte ich keine Unterstützung."

Wissen ist Goldmedaille

Çaliskan entwickelte sich zu einem Tüftler, feilte ständig daran, seine Technik zu optimieren. "Ich habe sogar im Geist trainiert." Manchmal seien ihm im Traum Dinge eingefallen. Dann stand er auf, fuhr mitten in der Nacht in die Trainingshalle. Çaliskan sagt Sachen wie "ich habe aus jedem Gelenk das Maximum herausgeholt", "ich habe ständig nach der perfekten Bewegung gesucht", "ich habe trainiert wie ein Wissenschafter". Während seiner Zeit im Heeressportzentrum Innsbruck machte er Ausbildungen zum Fitnesstrainer und zum Heilmasseur. Ein Bewegungsanalytiker sei er bis heute. "Das Wissen, das ich habe", sagt Çaliskan, "ist meine Goldmedaille." Er erzählt von einer Idee, ohne Details zu verraten. Nur so viel: "Dafür werden mir viele Trainer dankbar sein." Er will prüfen, ob er sich die Idee schützen lassen kann.

Vielleicht lässt ihn diese Idee dann auch beruflich verändern. Vorerst heißt sein Arbeitsplatz Holmes Place, Wipplingerstraße 30. Es könnten mehr als die 26 Kunden sein. Aber manche stoßen sich an Çaliskans Namen, fragen nach einem österreichischen Trainer. Immerhin, der Chef des Fitnessstudios ist auf Çaliskans Seite. So wie damals die Richterin. Rassistische Anfeindungen, wie sie Çaliskan passiert sind, wünsche er keinem. (Birgit Riezinger, DER STANDARD, 20.4.2015)