Die einen verheimlichen ihr nächtliches Tun (von links: Michael Maertens und Nicholas Ofczarek), die anderen schaffen Unrat in die gute Stube (Maria Happel): Szenen der bürgerlichen Scheinmoral

Wien - Der Haushalt des Rentiers Lenglumé ist vielleicht nicht die Hölle auf Erden. Aber dem Fegefeuer kommt er nahe. Eine weinrote Tapetenwand ragt hoch hinauf in den Schnürboden. Sechs Doppeltüren führen hinaus in den gestaltlosen, schwarzen Weltraum. Eine Uhr tickt vernehmlich im Wiener Burgtheater. Ein Teufel mit Bärtchen erscheint und schleppt Aktenberge ins Esszimmer. Die Dame des Hauses (Maria Happel) stellt währenddessen einen Tabakstopf auf die Tafel. Es könnte sich genauso gut um die Urne mit der Asche ihres ungeliebten Mannes handeln.

Der Teufel ist Diener (Markus Meyer) bei Lenglumés. Er nimmt wie selbstverständlich an der Tafel Platz und schlägt die erste Kladde auf. Zu notieren gibt es genug in Eugéne Labiches Schwank Die Affäre Rue de Lourcine. Über die Untaten der Bourgeoisie könnte man unausgesetzt Buch führen. Monsieur (Nicholas Ofczarek) ist heimlich aus gewesen. Lenglumé hat sich die vergangene Nacht mit alten Klassenkameraden sinnlos bezecht. Sein Erwachen ist ein böses: Filmriss.

Monsieur Leglumé muss gegen sich selbst ermitteln

Es schlägt die Stunde des Komikers. Der Witz liegt im Erweis seiner Unfähigkeit. Dieser Fleischberg mit der gaumigen Aussprache könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Doch Monsieur Leglumé muss gegen sich selbst ermitteln. Es scheint, er habe zusammen mit Schulfreund Mistingue (Michael Maertens) eine Kohlenhändlerin im Suff erschlagen.

Auftritt Ofczarek: Mit der Anmut eines korpulenten Fakirs steigt der Hausherr aus der Bettstatt. Haarsträhnen hat er sich über den Vollmond der Glatze gelegt. In Socken wischt er durch die Wohnung, die doch eher einer Aufbahrungshalle gleicht (Bühne: Bettina Meyer).

Froststarre

Es herrscht faszinierende Froststarre in Barbara Freys Labiche-Inszenierung. Linker Hand türmen sich Müllsäcke, hinter denen es raschelt. Aus dem Keller wird weiteres Belastungsmaterial ans Licht befördert. Dieses ist stark heruntergedimmt. Hoch oben funzelt ein einsamer Luster mit kleinen Totenköpfen.

Frey kümmert sich um die Gesetze des Vaudeville-Schwanks genau gar nicht. In diesem Albtraum schlagen keine Tapetentüren, kein Bürger versteckt Belastungsmaterial. Lenglumé ist auch kein Hysteriker, der wegen einer etwaigen "Schuld" in Panik verfiele. Die Affäre Rue de Lourcine wird dem Publikum gerne als Spiegel vorgehalten. Der Realismus besteht im Erweis einer Lüge.

Monsieur hat einen Zechkumpan (Michael Maertens) mit in sein Bett genommen, dessen Anwesenheit er vor seinem Haushalt rechtfertigen muss. Zum anderen dürften seine Hände aber unschuldiges Blut vergossen haben. Dieser zweite Umstand bereitet Lenglumé keine Pein. Kohlenstaub an den Fingern ist für Scheinheilige wie ihn ein hygienisches, kein moralisches Problem.

Frey und ihre wundervollen Schauspieler interessiert die Begehung einer Traumlandschaft, zu der das Wachbewusstsein normalerweise keinen Zutritt fin- det. Diese Labiche-Unternehmung spielt nicht in der Belle Époque des Zweiten Kaiserreichs. Sie gehört ins 20. Jahrhundert. Damals drangen die Vertreter der Avantgarde in die hintersten Winkel der Psyche vor, wo sie den Stein der Weisen zu finden hofften.

Mit dem Müll in die Stube

Das Gelächter dieser Aufführung ist denn auch im Keim erstickt. Die Bürgerin Lenglumé (Happel) zerrt eigenhändig den Müllsack in die Stube. Ratten macht sie mit dem Spaten den Garaus. Ihre Beziehung mit dem Kammerdiener lebt sie vor aller Augen aus. Für Ofczarek und Maertens, zwei Akrobaten des Stillstands, aber ist die Welt aus den Fugen. Die lieben Verwandten sind Gespenster (Peter Matic). Jeder Schluck Wasser, den die beiden Verkaterten aus der Karaffe abzweigen, gleicht dem Versuch, eine Wüste urbar zu machen.

Es mag um die beiläufige Umsetzung von Elfriede Jelineks Übersetzung schade sein. Aber es liegt eine metaphysische Trostlosigkeit über dieser akklamierten Übung. Frey hat die seichte Komödie in eine Samuel-Beckett-Landschaft hinüberverpflanzt. Hinter jeder Plüschtüre kann sich der Himmel verbergen (Schnaps), oder der Knochenberg eines Beinhauses. Höllenspaß ist das keiner, eher ein Rendezvous mit dem Nichts. Doch manchmal ist so etwas heilsam. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 20.4.2015)