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Auf den Flüchtlingsbooten befinden sich viele Frauen und Kinder aus den Kriegsregionen im Nahen Osten.

foto: ap/imbesi

Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Guisi Nicolini, bringt es auf den Punkt: Die Flüchtlingsbootkatastrophe von Sonntag, bei der vor Sizilien 700 Menschen bis 1000 Menschen ums Leben gekommen sein könnten, wird nicht die letzte sein.

Es sei denn, in der EU wird schleunigst, also im Grunde binnen Tagen oder Wochen, umdisponiert: Weg vom Schutz der Seegrenzen vor den Flüchtlingen, hin zu einer konzertierten Rettungsaktion von Flüchtlingen. Am besten durch Einrichtung eines humanitären Korridors über das Mittelmeer, wie es am Sonntag die Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in Italien, Carlotta Sami, forderte. Im Unterschied zu den nun, etwa von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) reflexartig gestellten Politikerforderungen, etwa nach Errichtung von Auffanglagern in Nordafrika, wäre ein solcher relativ rasch zu bewerkstelligen.

Fluchtsaison startet erst

Tatsächlich eilt es jetzt: Die warme Wetterperiode, in der es ein bisschen weniger gefährlich ist, sich in seeuntüchtigen Schiffen von Nordafrika aus übers Mittelmeer in Richtung Europa – meist Italien – zu wagen, hat gerade erst begonnen. Und die Zustände, die Menschen zur Flucht zwingen, haben sich weiter zugespitzt: in Syrien, Libyen, und vielfach auch in afrikanischen Subsahara-Ländern.

Angesichts dessen entpuppt sich die Entscheidung von vergangenem Herbst, die im Frühjahr und Sommer 2014 von der italienischen Marine betriebene Flüchtlingsrettungsaktion Mare Nostrum durch die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordinierte Seegrenzen-Überwachungsaktion Triton zu ersetzen, als fataler Fehler. Schätzungen zufolge sind heuer, das jüngste Unglück mit einberechnet, bereits 3000 Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer vor Italien ertrunken . Eine systematische Zählung gibt es nicht, vielleicht, weil man es gar nicht so genau wissen möchte.

Mare Nostrum rettete 170.000 Menschenleben

In der vergangenen warmen Saison waren 170.000 Bootsflüchtlinge durch Mare Nostrum gerettet worden. Doch die Appelle der italienischen Regierung, andere EU-Staaten mögen mithelfen - sei es im Mittelmeer direkt oder durch Aufnahme der in Italien gestrandeten Flüchtlinge- verhallten im Nichts: Asylwerber und Migranten sind europaweit derart unpopulär, das Thema Asyl und Umgang mit Muslimen derart von Rechtsextremen besetzt, dass man sich gegenüber den Hilfsersuchen taub stellte.

Stattdessen ruhte man sich in den Regierungskanzleien der EU offenbar auf der Fehleinschätzung aus, dass Flüchtlingsrettung á la Mare Nostrum Menschen zusätzlich animiere, den gefährlichen Seeweg zu wagen. Dass viele von ihnen also umgekehrt im Wissen, dass eine Rettung im Fall einer Panne weit unwahrscheinlicher ist, darauf verzichten würden.

Beihife Europas

Spätestens jetzt hat sich das als völlige Fehleinschätzung herausgestellt, ja, als Inkaufnehmen des Todes tausender Kriegs- und Elendsflüchtinge, Männer, Frauen und Kinder: Man kann diese Art Politik sogar als Beihilfe bezeichnen.

Darüber gilt es jetzt, dringend und änderungsoffen zu diskutieren. Das in Zusammenhang mit den Bootsflüchtlingen aufgekommene Aufregerthema der vergangenen Woche, der angebliche Glaubenskrieg auf einem solchen Schiff, in Zuge dessen Muslime Christen ins Meer geworfen haben sollen, ist im Vergleich dazu nur in zweiter Linie wichtig. Was diesen Fall abgeht, gilt es, das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abzuwarten. (Irene Brickner, derStandard.at, 19.4.2015)