Lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Alltag zur Zeit der Gründung der Zweiten Republik und schildert seelische Scherbenberge: Karin Peschka.

Foto: Anton Peschka

Aus dem Wiener Prater kennt man den Watschenmann, eine mannshohe Puppe, auf die eindreschen kann, wer überschüssige Kräfte abbauen muss oder seiner Anvertrauten Manneskraft demonstrieren will. So einer Watschenmann-Figur hat die aus Oberösterreich stammende, 1967 geborene Autorin Karin Peschka menschliches Leben eingehaucht.

In ihrem atmosphärisch dichten, sprachlich eigenwilligen Debütroman Watschenmann begegnet uns der zwanzigjährige Heinrich. "Blass und knochig, redet fast nix und die Schultern viel zu schmal für seine Läng' ." Ein undurchdringlicher, merkwürdiger Charakter, der sich bewusst als Watschenmann probieren will. Was das heißt? Er provoziert Menschen mit Nichtreagieren, mit Stummsein, mit Lachen: "Ich lass' mich schlagen, die stör' ich und dann wacht das Schlechte auf und kommt raus, wenn sie hinhau'n, und das sind die Reste vom Krieg!"

In seinem Wahn versucht Heinrich, sein Gegenüber zu spiegeln, indem er die Perspektive desselben einnimmt und sein Verhalten zurückgibt. In der Psychologie ist diese Form der Spiegelung auf Carl Rogers zurückzuführen. Heinrich denkt an den leitmotivischen Raben, wenn er sich verbalen und körperlichen Attacken aussetzt, den "Kriegswurm" freilegt.

Wir befinden uns in Wien im Jahre 1954. Noch prägen "wundgebombte Häuser und zahnlückige Häuserreihen" die Stadt, doch dazwischen sieht man "glänzende Auslagen"; der eifrige Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg findet statt, wirtschaftlich geht es aufwärts, durch das Marshall-Hilfsprogramm schlägt Österreich den klar westlich, kapitalistisch orientierten Weg ein.

Das Land ist noch nicht frei, Wien in vier alliierte Besatzungszonen eingeteilt; der "Ami-Soldat" Elmer, eine Zufallsbekanntschaft Heinrichs, tritt im Roman mehrmals als freundlicher Helfer auf, spricht eine Mischung aus Englisch und Deutsch ("Sure, ich bring a Arzt") und vermittelt immer wieder einen Doc für Notfälle.

Die wichtige Rolle Amerikas beim Wiederaufbau Österreichs ist bei Peschka nur im Hintergrund bemerkbar, flüchtig eingeschoben. Vielmehr interessiert sie, was in den Menschen passierte, in denen noch der Krieg gegenwärtig war, als Täter, als Opfer. Und so ist neun Jahre nach dem Krieg quasi die ganze Zeit die Rede vom Krieg, es dominieren Wut, Angst, Schreiausbrüche, körperliche Gewalt. Hilflosigkeit. Eine auktoriale Erzählstimme führt den Leser auf die Straßen und in die aufgeschmückten Beserlparks, wo sich Krüppel und Traumatisierte in ihrer täglichen Tristesse auf- und aushalten.

Schillernde Nebenfiguren

Überhaupt wird der Roman von schillernden Nebenfiguren getragen: Der Russenverehrer Kummerl nervt alle mit seinem Mundharmonikaspiel; die wahnsinnige Kriegswitwe, genannt Pritschlerin, hat ihre Zwillinge verloren, dafür ein zerbombtes Haus mit kaputtem Blumengeschäft übernommen; der grindige Lichterl-Sigi, der bei der SS war; die Maridi-Tant, die von ihrer Schlafstelle im Park verscheucht wird und schließlich bei den drei sogenannten Grazien unterkommt, bei Helene, "dünn wie ein Besen", und ihren blinden Brüdern Peter und Paul. Die drei letztgenannten nehmen in Peschkas gründlich recherchiertem Werk zentrale Positionen ein.

Hauptfiguren sind aber neben Heinrich zwei andere: Lydia und Dragan, die in einem Innenhof-Verschlag hinter einer leerstehenden Schusterwerkstatt hausen. Bei ihnen kommt Heinrich unter.

Um diese Dreierkonstellation ist der Roman aufgebaut. Die verzweifelt-verstockte und zugleich hoffnungsvolle Lydia wartet auf den aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Schuster, aber nichts Genaues weiß man nicht. Sie hat versprochen, auf die Werkstatt aufzupassen, und hütet sie wie einen Schatz. Doch Dankbarkeit ist kein Weltenlohn, da hilft auch Bürgermeister Jonas nicht.

Konsequente Erzählerin

Der Serbe Dragan, ein Boxer, kann trotz Bemühungen Lydias Schuster nicht ersetzen, spricht sie liebevoll "mace" (laut Internetübersetzung: Kätzchen; Muschi) an. Ihm liegt am meisten daran, Normalität herzustellen, will Heinrich den Watschenmann-Wahn als Illusion ausreden, was ihm scheinbar glückt, bevor seine Welt zusammenbricht.

Karin Peschka hat mit Auszügen aus dem Roman 2013 den Wartholz Literaturpreis gewonnen. Als Nachgeborene hat sie mit der Nachkriegszeit in Wien ein Stoffgebiet gefunden, das aus der Distanz betrachtet inhaltlich viel hergibt und die Aufmerksamkeit auf die Menschen lenkt, die den Alltag zur Zeit der Gründung der Zweiten Republik prägten. Ihre Arbeit als Sozialarbeiterin ist sicher behilflich, seelische Scherbenberge zu beschreiben.

Auf sprachlicher Ebene findet die Autorin ihren eigenen Zugang durch die Verwendung eines wienspezifischen Idioms in den Dialogen. Das wirkt anfangs sperrig, aber man findet in den Sprachfluss hinein. Es ist keine schnell konsumierbare Kost. Wer kleinlich ist, bemängelt das Wörtchen "bislang".

Konsequent hingegen ist die allwissende Erzählerin mit einer ungewöhnlichen Satzstruktur, mit einer Vielzahl an elliptischen Sätzen und klaren Bildern, die eine spezielle Atmosphäre jener Zeit erzeugen. Formal ist der Roman in zehn Kapitel eingeteilt, die die Monate Jänner bis Oktober zur Überschrift haben und denen jeweils ein Gedicht vorangestellt ist.

Sehr stark ist Peschkas Erzählen in alltäglichen Momentaufnahmen. Nachdem Heinrich einen Stein in eine Straßenbahnweiche gesteckt und einer gestolperten Frau auf die Beine geholfen hat, wird er von Straßenbahnfahrer und Schaffner derart zusammengeschlagen, dass er schwerverletzt ins Krankenhaus muss und dennoch fast ins Gefängnis kommt. Die Fahrgäste unterstützten die Prügelei, kein Eingreifen, keine Zivilcourage. Aber da hat sich wenig verändert bis heute. Heinrichs Dasein als Watschenmann verwandelt sich alsbald in eine selbsttherapeutische Maßnahme, endlich sucht er den "Kriegswurm" in sich selbst. (Sebastian Gilli, Album, DER STANDARD, 18./19.4.2015)