Für Vincent Guerin ist der 8. Mai 1996 der Beweis dafür, dass es Gerechtigkeit auf der Welt gibt. Der Mittelfeldspieler war 90 Minuten am Feld, als PSG seinen einzigen Europacuptitel gewann. Im Finale des Cups der Cupsieger besiegten die Pariser den SK Rapid durch ein Freistoßtor von Bruno N’Gotty 1:0. Im Interview spricht Guerin über übermotivierte Wiener, Geldspritzen vom Fernsehen und das schönste Finale seiner Karriere.
ballesterer: Wie hat sich PSG auf das Europacupfinale gegen Rapid vorbereitet?
Vincent Guerin: Wir sind nach Biarritz auf Trainingslager gefahren; eine Woche abgeschieden auf dem Land, um vor den Medien in Sicherheit zu sein. Ein Europacupfinale ist in Frankreich etwas Besonderes, auch heute noch. Die Erwartungen waren enorm hoch: für uns, für den Klub, für die Fans und auch für Frankreich. Uns war es wichtig, auch einmal unter uns zu sein. Wir haben am ersten Tag eine große Party geschmissen, um uns danach voll auf das Spiel zu konzentrieren. Wie PSG in dieser Saison waren auch wir lange in vier Wettbewerben vertreten: Meisterschaft, Cup, Ligacup und Cupsiegercup. Wir haben am Ende nur den Europacup gewonnen. Das hat uns viel Energie gekostet, war aber auch der wichtigste Bewerb.
Der Verein hat in der Vorbereitung Tennisstar Yannick Noah eingebunden. Zwischen Trainer Luis Fernandez und den Spielern soll es gekriselt haben, also hat man Noah gerufen, um die Stimmung zu heben. Welche Rolle hat er gespielt?
Wir waren sehr überrascht, als er angekommen ist. Er hat seine Empathiefähigkeit, seine gute Laune und seine Erfahrung aus Finalspielen mitgebracht – einerseits das French-Open-Finale 1983, aber vor allem das Davis-Cup-Finale 1991, als er Kapitän der französischen Mannschaft gewesen ist. Wir hatten viele Spieler mit großer internationaler Erfahrung, trotzdem hat er hat sicher einigen helfen können, sich gedanklich auf das Spiel vorzubereiten.
Was haben Sie vor dem Spiel über Rapid gewusst?
In Biarritz haben wir viel Videostudium betrieben. Rapid war kein Name, der uns Angst gemacht hat. Zuvor haben wir gegen Parma, Celtic Glasgow und La Coruna gewonnen. Aber es stimmt auch, dass niemand zufällig in ein Finale einzieht. Also haben wir uns doch eher in Acht genommen und sind mit viel Respekt an das Spiel herangegangen. Rapid hat im Halbfinale gegen Feyenoord gewonnen, das war ein beeindruckendes Spiel. Ihre Leistungen im Europacup haben uns davor gewarnt, voreilig in Jubelstimmung auszubrechen.
Dennoch war Paris Saint-Germain Favorit, oder?
Wir waren die Favoriten, das ist sicher. Wir haben in den Jahren davor vier Halbfinale gespielt und ein Finale, wir haben Real Madrid und Barcelona besiegt. Rapid hatte weder diese Vergangenheit noch diese Erfahrung, aber deshalb war der Druck auch auf unserer Seite.
Hatten Sie Albträume von Trifon Iwanow? Drei Jahre zuvor sind Sie mit der französischen Nationalmannschaft von Bulgarien aus der WM-Qualifikation gekegelt worden.
Nein, 1993 war überhaupt kein Thema. Wir haben gewusst, dass Rapid sehr gute Spieler hatte. Iwanow natürlich, aber auch Carsten Jancker, der nach der Saison zu den Bayern gegangen ist. Dietmar Kühbauer war ein exzellenter Mittelfeldspieler. Wir haben auch gewusst, dass sie körperlich sehr stark waren. Jancker, das war ein Möbelpacker!
Rapid hat das Spiel sehr körperbetont begonnen. Rai ist nach nicht einmal einer Viertelstunde verletzt ausgewechselt worden.
Rai war unser Star, Rapid hatte sicher den Plan, ihn aus dem Spiel zu nehmen. Nach einem Tackling von Peter Schöttel hat er das Spielfeld mit einem verstauchten Knöchel verlassen müssen. In der ersten Viertelstunde haben sie körperlich sehr intensiv gespielt. Wir waren zwar auch robust, aber der kampfbetonte Einsatz hat nicht unserer Philosophie entsprochen: Wir hätten lieber gespielt. Damals waren die Schiedsrichter gegenüber härteren Einlagen um einiges lockerer eingestellt. Das war einfach der Fußball dieser Zeit, wir waren es gewohnt. Schöttel hat für dieses Foul nicht einmal Gelb gesehen – aber er hat dann auch den Freistoß von Bruno N’Gotty ins eigene Tor abgefälscht. Es gibt also doch Gerechtigkeit auf dieser Welt.
Welcher Gegenspieler ist Ihnen am meisten aufgefallen?
Dietmar Kühbauer. Er war ein sehr guter Techniker und der Maestro von Rapid. Das erinnert mich an eine Anekdote: Unser Trainer Fernandez hat kein besonders feines Französisch gesprochen. In seiner Ansprache vor dem Spiel hat er lange über Kühbauer geredet. Er hat uns dauernd gesagt, dass Kühbauer der "Metropol" von Rapid sei. Wir haben uns angeschaut und nicht verstanden, was er uns sagen wollte. Nach einigen Minuten haben wir kapiert, dass er meinte, dass Kühbauer für Rapid das "Metronom" sei.
Sprechen wir über das Siegestor von Bruno N’Gotty. Welche Erinnerung haben Sie daran?
Wir hatten vorher schon einen Freistoß, den wir ausgespielt haben, anstatt zu schießen, und auch einige Chancen, etwa von Youri Djorkaeff und Bruno N’Gotty. Wie gesagt, wir waren eine Mannschaft, die spielen wollte, aber die erste halbe Stunde waren wir angespannt – durch das, was auf dem Spiel stand, und auch durch die harte Gangart. Nachdem Rai aus dem Spiel war, haben wir einen Gang runtergeschalten. Und in der 29. Minute haben wir schließlich diesen Freistoß 35 Meter zentral vor dem Tor bekommen. Das war die ideale Distanz für Brunos Schüsse, er konnte richtige Granaten loslassen. Er hatte enorme Schenkel. Damals haben wir ihn in der Mannschaft deshalb "Teddybär" genannt. Und er hat praktisch nur bei McDonald’s gegessen.
Ist dieser Sieg im Cup der Cupsieger die schönste Erinnerung Ihrer Karriere?
Diese Frage wird mir oft gestellt. Ich habe das Glück gehabt, bereits sehr jung Titel zu gewinnen, und habe das während meiner gesamten Karriere getan. Mit 22 war ich mit Frankreich Jugend-Europameister. Mit 23 habe ich mit Montpellier meinen ersten Cup gewonnen. Ich erinnere mich oft an die Worte von unserem damaligen Tormann Albert Rust, der vor dem Finale gesagt hat: "Genießt es, ihr jungen Spieler, ich bin 36 Jahre alt, und das ist mein erstes Finale." In so einem Moment denkt man sich, dass es vielleicht das einzige Finale sein wird, das du je spielen wirst. Es wäre zu einfach, heute zurückzublicken und zu sagen, dass das Finale 1996 die schönste Erinnerung meiner Karriere ist. Das schönste Finale ist immer das, das du gerade gewonnen hast, denn du weißt nicht, ob du noch andere solche Spiele erleben wirst.
Damals hat Canal+ den Verein finanziert. Heute ist Paris Saint-Germain dank Qatar Sports Investments wieder eine große Nummer in Europa. Ist ein reicher Eigentümer Pflicht, um in Europa zu bestehen?
Der Fußballsport hat sich seit damals enorm entwickelt. Einerseits das Spiel selbst, aber auch das wirtschaftliche Gebaren. Der Sport und der Fußball im Besonderen haben mittlerweile eine wichtigere Stellung in der Gesellschaft. Und die mächtigen Leute haben das mitbekommen. Der Sport ist eine Form der leichten Unterhaltung geworden, mit immer größeren Zuschauermassen und damit auch größeren wirtschaftlichen Möglichkeiten. Er bringt Profite und mediale Aufmerksamkeit. Heute ist es für einen Klub noch viel schwerer als zu meiner Zeit, ohne reichen Eigentümer erfolgreich zu sein. Ohne Canal+ hätten wir sicher keine so konkurrenzfähige Mannschaft gehabt. (Interview: Romain Bigay & Pierrick Prodhomme, Übersetzung: Christoph Heshmatpour, derStandard.at, 16.4.2015)