"Vergewaltigung gendert uns, indem sie uns beibringt, wie wir uns unserem Geschlecht entsprechend zu verhalten haben, wie die Geschlechter zueinander stehen", schreibt Mithu Sanyal.

Foto: Heribert Corn

Weil aus aktuellem Anlass gerade viel über Vergewaltigung diskutiert wird, möchte ich hier noch einmal etwas genauer über die aktuelleren feministischen Analysen zu dem Thema schreiben, die nämlich wie meistens komplexer sind, als viele meinen.

Häusliche Gewalt wurde öffentlich thematisiert

Unter dem Titel "Rape Revisited. Die Tiefengrammatik der sexuellen Gewalt" hat Mithu M. Sanyal für den gerade erst von mir empfohlenen Sammelband "Feminismen heute" eine kritische Rekapitulation des Vergewaltigungsdiskurses seit den 1970er-Jahren unternommen. Kleine Erinnerung: Damals hat die Frauenbewegung das Thema häusliche Gewalt öffentlich zum Thema gemacht. In diesem Zusammenhang wurde vielen (auch vielen Frauen) erstmals bewusst, dass Vergewaltigung nicht vor allem etwas ist, das im dunklen Park von einem bösen Fremden ausgeht, sondern meistens innerhalb sozialer Beziehungen stattfindet: Es sind Ehemänner, Freunde, Bekannte, die vergewaltigen. Der Verdienst der damaligen Frauenbewegung, das bewusst zu machen und politisch zu thematisieren, ist unbestritten, allerdings hat der Diskurs einige Schwachstellen, die Mithu Sanyal analysiert.

Unterschiedliche Weisen, das Erlebte zu verarbeiten

Erstens wurde dadurch ein Bild von Frauen als sexuell eher inaktiven, tendenziell an Sex desinteressierten Wesen noch einmal bekräftigt und so bestehende Geschlechterzuschreibungen eher verstärkt als dekonstruiert. In dem Bemühen, den tatsächlichen Skandal der sexuellen Gewalt sichtbar zu machen, wurde gleichzeitig denjenigen, die Vergewaltigungen erlebt und erlitten hatten, eine bestimmte Interpretation zugeschrieben, zum Beispiel, dass dies in jedem Fall ein ungeheuer traumatisierendes Ereignis sein muss. Manche Feministinnen beanspruchten, "im Namen der vergewaltigten" Frauen zu sprechen, obwohl ja auch Frauen, die vergewaltigt wurden, sehr unterschiedliche Weisen haben, das Erlebte zu verarbeiten und zu interpretieren. (In diesem Zusammenhang ist übrigens auch der Beitrag von Claudia Schöning-Kalender über "Frauenhäuser im Aufbruch" aus diesem Sammelband interessant.)

Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern

Zweitens wurde im damaligen Diskurs die Debatte über sexuelle Gewalt sehr pauschal mit einem Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern gleichgesetzt. Es ist eben nicht so, dass es schlicht um das Schema "Männer sind Täter, Frauen sind Opfer" geht. Auch Männer werden Opfer von sexueller Gewalt, die zumeist von anderen Männern ausgeht, aber auch von Frauen ausgehen kann. Und Frauen sind mit der Art und Weise, wie sie Geschlecht "performen", auch selbst aktive Mitwirkende an dem, was heute unter dem Oberbegriff "Rape Culture", also Vergewaltigungskultur, zusammengefasst wird.

Daraus aber nun – wie es manche tun – den Schluss zu ziehen, Vergewaltigung sei quasi eine "geschlechtsneutrale" Angelegenheit und betreffe Frauen und Männer gleichermaßen (nach dem Motto: Frauen vergewaltigen Männer genauso wie Männer Frauen), ist natürlich Quatsch. Mithu Sanyal geht denn auch den genau umgekehrten Weg: Sie untersucht gerade die Verwobenheit zwischen Vergewaltigung, Vergewaltigungsdebatten und der Konstruktion von Geschlecht, die nämlich eben sehr viel komplexer ist als das schlichte Täter/Opfer-Schema.

"Vergewaltigung gendert uns"

"Vergewaltigung ist nicht nur das am meisten gegenderte Verbrechen, sondern auch das Verbrechen, das uns am meisten gendert", beginnt sie ihren Text. Unter diesem Aspekt rekapituliert sie anschließend die feministischen und medialen Diskurse über Vergewaltigung,und kommt zu dem Schluss: "Vergewaltigung gendert uns, indem sie uns beibringt, wie wir uns unserem Geschlecht entsprechend zu verhalten haben, wie die Geschlechter zueinander stehen."

Ihr Fazit ist übrigens, dass der entscheidende Faktor für "Rape Culture", also die Wahrscheinlichkeit, dass sexuelle Gewalt in einer Kultur vorkommt, die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist: "Je totaler eine Institution ist, desto höher die Zahl der Vergewaltigungen. Je rigider die Geschlechterrollen, desto mehr Sexismus bis hin zur physischen sexuellen Gewalt. Das enthebt das Individuum zwar nicht der Verantwortung, verlagert den Fokus jedoch auf die gesellschaftliche Organisationsform. Entsprechend gibt es Gesellschaftsformen, in denen Vergewaltigung so gut wie nicht vorkommt, bis hin zu hoch gewalttätigen Gesellschaften mit einer hohen Rate an sexualisierten Verbrechen."

Und: "Die schlechte Nachricht ist zwar, dass sich das Vergewaltigungsproblem nicht durch schärfere Gesetze lösen lassen wird. Das Gute ist allerdings, dass nahezu alle Maßnahmen, die unsere gesamte Gesellschaft (geschlechter)gerechter machen, ein direktes Vergewaltigungspräventionspotenzial haben." (Antje Schrupp, dieStandard.at, 17.4.2015)