Es kommt immer auf die Ziele an. Und darauf, auf das, was man geschafft hat, auch stolz zu sein – und es dann auch zu feiern: Am Sonntag um 14 Uhr war die Welt für uns mehr als einfach nur in Ordnung – wir waren glücklich. Denn alle 16 Läuferinnen und Läufer hatten es geschafft.

Und die vier Staffeln des STANDARD trafen wohlbehalten und lachend am Maria-Theresien-Platz zum finalen Gruppenfoto zusammen: Keiner hatte sich wehgetan. Alle hatten ihr Bestes gegeben – und manche noch ein bisserl mehr. Darum halten wir es so, wie es der große Goleador einmal so schön ausdrückte: "Alles andere ist primär."

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Aber der Reihe nach. Marathontage beginnen früh. Weil man etwa drei Stunden vor dem Start gegessen haben sollte. Da bleibt genügend Zeit, um den Sonnenaufgang zu genießen. Um das Material noch einmal (das wie vielte Mal eigentlich?) zu checken. Um die Strategie noch einmal durchzugehen. Um nervös zu werden.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Plan war simpel. Weil schon Emil Zatopek es so schön formuliert hatte: "Einen Marathon zu laufen ist einfach: Es gibt einen Start und ein Ziel – und dazwischen muss man nur laufen." Und zwar egal, ob alleine, in der Gruppe oder als Staffel. Wir hatten uns für die Kombi entschieden.

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Unsere vier Staffeln würden gemeinsam starten – und versuchen, so lange wie möglich zusammenzubleiben. Angepeilte Pace: 5:30 – dass das ein Tempo ist, das die vier Startläufer locker über 16 Kilometer halten können würden, hatte sich beim gemeinsamen Probelauf rasch gezeigt.

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Ich gab den Pacer. Oder am Anfang eher den Räumpflug: Es ist eine Frage der Fairness den tatsächlich schnellen Läufern gegenüber, sich bei so einem Event mit dieser Pace nicht in die vordersten Startblöcke zu stellen.

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Nur: Da in Wien so viele Läufer beim Startblock schummeln (und der Veranstalter sich nicht drum kümmert), knallen die Schnellen von zum Beispiel Block drei schon nach wenigen hundert Metern in die Langsamen/Gebremsten von Block zwei.

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Das ergibt zwar tolle Bilder – und ausschließlich auf die kommt es den Veranstaltern des VCM an, sonst würden sie dieses seit Jahren heftig kritisierte Startblockhopping nämlich verhindern. Anderswo funktioniert das nämlich sehr gut: Zum Laufen ist es ziemlich unerträglich. Höflich formuliert. Und von einem vernünftigen Rhythmus kann man da nicht einmal träumen.

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Andererseits bleibt so genug Zeit, um mit Bekannten, die man unterwegs trifft, zu quatschen – und Erinnerungsfotos zu schießen: mit Christian Decker etwa. Der ist nicht nur Barfuß-Laufblogger, sondern auch traditioneller VCM-Familienstaffelläufer: Christian läuft die volle Distanz – und seine Frau und seine Kinder begleiten ihn jeweils auf einem Staffelstück der Strecke.

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Wir waren hier schneller als Familie Decker. Aber die Hauptallee war so voll, dass das Laufen nicht wirklich lustig war oder wurde: Auch auf die Pace zu pfeifen und einfach mit der Masse zu schwimmen funktioniert hier nicht. Weil entweder irgendwer von hinten drängt – oder der Block vor einem auf eine noch langsamere Gruppe knallt. Und abbremst.

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"Ist das denn erlaubt?", fragte Franziska Zoidl deshalb, als ich auf die Nebenspur auswich. Vermutlich nicht. Aber solange man bei den Zeitnehmungsmatten wieder auf der Strecke ist, merkt es keiner. Und es stört auch keinen. Im Gegenteil: Endlich konnten wir laufen.

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Ganz bestimmt verboten ist beim VCM aber etwas Anderes: Kinderwagen. Und Rollstühle. Anderswo, etwa in NY, sind die Veranstalter ausdrücklich stolz auf solche Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Ein oder zwei Begleitläufer, ein gelbes Sicherheitswesterl – und alle sind happy. Man muss es halt auch wollen. Aber Wien ist auch in anderer Hinsicht anders: So wenig sich die Veranstalter um die Einhaltung des Reglements bei den Startblöcken kümmern, so wurscht ist ihnen im "Fußvolk" auch die Einhaltung anderer Regeln. In letzterem Fall begrüße ich das ausdrücklich.

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Nach der Hauptallee geht es am Donaukanal stadteinwärts. Da kann man dann nimmer wirklich ausweichen. Schon gar nicht bei Labestellen: Wo es Wasser gibt, bricht Chaos aus. Sich danach als Gruppe wieder zu finden ist vermutlich die schwierigste Übung beim Pacen in einem dichten Feld.

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Aber es geht. Und etwa bei der Oper, nach über einem Viertel der Marathonstrecke, hatte sich das Feld dann endlich so in die Länge gezogen, dass die eine Spur Schnelleren nicht mehr ständig abbremsen mussten: Dass Slalomlaufen im Hauptfeld dazugehört, ist normal.

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Auf der Wienzeile zu laufen kann bei schönem Wetter hart sein. Erst recht, wenn es davor de facto noch keinen einzigen "echten" Frühlingstag zum Trainieren gegeben hat: Zwischen Pilgramgasse und Meidling sah ich etliche Hobbyläufer, die die Sonne und die Hitze unterschätzt hatten – und ausfielen.

Nach nicht einmal 14 Kilometern! Auch bei uns wurde gekämpft. Aber nicht aufgegeben – und nur das zählt.

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Die erste Wechselzone war bei Kilometer 16. Früher waren die Wartenden hier oft peu à peu bis über die Mitte der Straße vorgerückt und hatten die Strecke zu einem Flaschenhals gemacht.

Heuer funktionierte das aber super: Zwei STANDARD-Staffeln waren uns, als wir auf der Wienzeile das Tempo gedrosselt hatten, zwar "entwischt" – aber Rainer Schüller und Robert Knienieder waren genau dort, wo sie sein sollten.

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Vermutlich geht es verkehrstechnisch tatsächlich nicht anders – aber ich (und etliche Lauftouristen) bin/sind jedes Mal ein bisserl enttäuscht, dass der Lauf nicht näher am Schloss vorbeiführt. Oder – noch besser – vorne am Schloss vorbeigeht: An der Engstelle "Parkeingang" kann es nicht liegen – solche Nadelöhre gibt es auf der Strecke ohnehin genug.

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Beim Technischen Museum waren wir dann wieder fast komplett: Wir holten Tanja Thron ein. Aber weil Robert und Rainer (auch ein bisserl zu ihrer eigenen Überraschung) meine 5:35er-Pace ganz locker halten konnten, waren wir so unhöflich, weiterzulaufen.

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Die Mariahilfer Straße runter: fein bergab. Angenehmes Tempo. Glückliche Gesichter: Die Halbmarathonläufer würden es bald hinter sich haben. Die zweite Staffeletappe ist eher locker – und die Marathonis freuen sich darauf, dass ab der Halbzeit weniger Gedränge geben wird.

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Wien ist halt Wien – und nicht Berlin, London oder New York: Dort drängeln sich die Zuschauer nämlich sogar an den abgelegensten Streckenteilen.

Dass die Wiener da vergleichsweise fade Nocken sind und gerade mal beim Zieleinlauf ein fettes Spalier bilden, ist halt so. Und auch wenn ich die VCM-Macher gerne kritisiere: Dafür können sie echt nix.

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Außerdem gibt es eh auch andere.

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Nach der Halbzeit. Die Halbmarathonläufer sind beim Heldentor abgebogen. Und auch wenn ich in der Früh noch unsicher war, ob ich die volle Strecke wirklich probieren soll, hatte ich vom Start an keine Sekunde mehr daran gezweifelt, wo ich mich einordnen würde.

Ob ich ankommen würde? Keine Ahnung. Aber Scheitern, hatte ich beschlossen, ist allemal besser, als von vornherein die einfache Option zu wählen.

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Außerdem waren die lachenden Gesichter meiner Staffelkollegen Ansporn genug: Pacen ist – auf diesem Level – keine Einbahnstraße. Ganz im Gegenteil. Und als Rainer an Florian Bayer übergab, spürte ich, dass wir da etwas richtig machten. Fast so wie Familie Decker.

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Neben Florian Bayer war jetzt auch Sascha Aumüller mit dabei. Die dritte Etappe führt von der Uni über die Liechtensteinstraße zur Friedensbrücke – und dann zurück in den Prater.

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Sascha meinte, dass 5:30 für ihn voll okay seien – und untertrieb: Der Mann wiegt in etwa so viel wie mein linkes Bein. Florian winkte uns ein "Macht nur!" zu – und Sascha gab Gas: Er frisch, ich nicht. Wer da für wen den Traktor machte, war nicht mehr so klar zu sagen. Aber es fühlte sich gut an.

Foto: Thomas Rottenberg

Ungefähr bei Kilometer 27,5 stand allerdings Herr Hermes am Straßenrand. Auf das Foto mit ihm wollte ich nicht verzichten. Er aber stellte zwei Fragen – und ich blieb stehen: Sascha war weg. Und den eigenen Rhythmus wiederzufinden dauert. Sowieso – aber erst recht nach 27 Kilometern.

Foto: Thomas Rottenberg

28 Kilometer. Knappe zweieinhalb Stunden unterwegs. Während ich mich mental auf das dritte Drittel einzustellen begann und versuchte, wieder in meinen Flow zu finden, tauchte am Praterstern, bei der Biegung hinein in die Hauptallee, die große Vidiwall auf: Man übertrug die Siegerehrung. Eh nett – aber auch ein bisserl frustrierend: Die Elite läuft gut doppelt so schnell wie wir Hobbyläufer.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz nebenbei: Immer wieder taucht die Frage auf, wie man beim Laufen aus einem Becher trinken soll, ohne sich zu verschlucken. Hustend und spuckend läuft es sich ja wirklich nicht so super.

Mein Tipp: Ein Stückerl von einem Trinkschlauch abschneiden und unters Armband der Laufuhr stecken. Funktioniert garantiert besser als der Versuch, Flüssigkeit aus einem Becher im Laufrhythmus in den Mund zu kippen.

Foto: Thomas Rottenberg

Es mag blöd klingen, aber: Auch wenn man natürlich selber laufen muss, hilft es, wenn da am Straßenrand Leute stehen und anfeuern. Und auch, wenn die Schilder und Transparente für wen ganz anderen sind, kann man sich da ein bisserl was mitnehmen. Aber ich glaube, ich habe schon erwähnt, dass da in Wien viel Luft nach oben ist …

Foto: Thomas Rottenberg

Am Weg zum U-Turn beim Stadion kam mir Sascha dann wieder entgegen. Er hatte ein paar hundert Meter Vorsprung herausgelaufen. Zur vierten Wechselzone hatte er nur mehr 300 oder 400 Meter. Da zu warten wäre sinnlos gewesen: Die letzte Staffelwechselzone ist nicht direkt auf der Hauptstrecke. Dass ich die letzte Etappe vermutlich ganz alleine laufen würde, war eingeplant.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin ja am VCM bisher immer gescheitert. Aus 1.001 Gründen – und immer war ich selbst Schuld. Die paar Male, die ich dort den Halbmarathon gelaufen bin, waren jedes Mal unerträglich. Wegen der Drängelei. So wie auch heuer – aber: Ab der Halbzeit ist da wirklich ein superfeines, entspanntes und gutes Laufen möglich. Obwohl ich bei Kilometer 37 das Wort "entspannt" in meinem Kopf nicht mehr fand. Der Mann mit dem Hammer trat auf. Wie es sich gehört, schlug er ohne Vorwarnung und von hinten mit voller Wucht zu: Das ist eben Marathon.

Foto: Thomas Rottenberg

Kilometer 40. Krämpfe in den Oberschenkeln. Ich will nicht mehr. Links von mir ist die STANDARD-Redaktion. Dort könnte ich jetzt einfach auf einen Sessel fallen und die Beine hochlegen. Warum renne ich eigentlich noch? Ich. Will. Nicht. Mehr.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht ich laufe – es läuft. Oder: schleicht. Auf der Ringstraße feuern uns die paar Hanseln, die noch auf uns warten, nach Leibeskräften an. Ein Blick auf die Uhr: Sub4, also unter vier Stunden, könnte sich knapp ausgehen. Knapp.

Foto: Thomas Rottenberg

Kilometer 41. Noch 1.195 Meter. Ich rechne: Die Pace auf den letzten drei Kilometern war unter jeder Sau. Wenn ich jetzt nochmal Gas gebe und die allerletzten Reserven raushole, schaffe ich den Dreier bei der Stunde noch. Knapp, aber doch. Ich kratze zusammen, was noch da ist. Viel, spüre ich, ist es aber nicht mehr.

Foto: Thomas Rottenberg

Und in dem Augenblick, als ich den einen Gang höherschalten will, sehe ich den Rettungswagen. Und das entsetzte Gesicht der Passantin. Die Sanitäter. Den Läufer unter der Rettungsdecke: So knapp vor dem Ziel! "Lass es! Runter vom Gas!", brüllt mir das letzte Quäntchen Vernunft in meinem Kopf zu.

Foto: Thomas Rottenberg

Die letzten Meter den Ring entlang sind Kulisse, Sound und Stimmung so, wie sie in New York fast durchgehend sind. Ein Traum. Der Schwenk durchs Heldentor. Die Tribünen. Der blaue Teppich. Ein Blick auf meine Uhr – sie springt auf 4:00. Egal. Es ist nur eine Zahl. Es geht ums Ankommen, das ist Sieg genug.

Foto: Thomas Rottenberg

Gleich nach dem Zieleinlauf weiß ich aber, wieso ich den VCM nicht mag: Anderswo applaudieren da Streckenposten & Co. Fragen, wie es war. Klopfen einem auf die Schulter. In Wien wird man von den Securitys angeschnauzt. Unmittelbar nach der Ziellinie. Quasi beim Abbremsen. Bevor man die Medaille bekommt: "Wenn Du nicht weitergehst, trete ich dir in den Arsch."

Wörtlich. Nicht zu mir, sondern zu dem Mann neben mir. Der deutsche Marathontourist ist fassungslos: "Ich bin gerade 42 Kilometer gelaufen. Dieser Ton muss nicht sein." Der Security: "Ich hab' gesagt: Weitergehen – schwerhörig auch noch?" Danke, ganz lieb.

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Aber in diesem Augenblick ist das trotzdem gleich wieder wurscht. Man hat es geschafft. Das zählt. Alles andere ist eigentlich egal. Trotzdem: Das Benehmen des Securitymannes ist symptomatisch für das, was sich in Wien "Finisherzone" nennt. Für das, was man als Läufer hier nach 42 Kilometern an Versorgung, Platz und Wertschätzung bekommt. Und das spricht sich herum. Man muss nicht bis Berlin schauen, wo man vor dem Reichstag ein großes, freundliches Areal zum ungestörten Ausspannen und Speicherauffüllen hat.

Oder nach New York, wo man einen Finisherbag bekommt, von dessen Inhalt man eine Kleinfamilie ernähren könnte. Auch beim Wachaumarathon stapeln sich Kuchen, Weckerln, Schnitten, unterschiedlichste Getränke und Obst. Und sogar bei "Pimperl"-Läufen von Kleinstveranstaltern gibt es mehr als je eine Flasche Wasser, einen Energydrink eine Banane und einen Apfel im Sackerl – und den Hinweis, dass "draußen eh Standln sind". Dort möge man sich jetzt hinschleichen.

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Was Marathontouristen, höflich gesagt, erstaunt und dem Veranstalter schlicht wurscht ist, solange der Halbmarathon-Event mit den lustigen Marathonteilnehmer-Zahlenspielen (das ist ein anderes Thema und wurde hier schon hinlänglich diskutiert) weiterhin ausverkauft ist, wissen Wiener Läuferinnen und Läufer ohnehin. Im Vorhinein.

Drum ärgerte ich mich auch nicht weiter – sondern freute mich, als mich im Gedränge dann Lisa Stadler entdeckte: Sie war die vierte Läuferin meiner Staffel und praktisch zeitgleich mit mir ins Ziel gekommen: "Alles andere ist primär."

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Meine Zeit? 4:00:28. Und auch wenn die Pacerei eine tolle Ausrede ist: Ich wäre solo und von weiter vorne höchstens zehn Minuten schneller gewesen. Oder ausgefallen: Mir fehlten – verletzungs- und verkühlungsbedingt – Tempohärte und "echte" Longjogs im Training. Das hatte ich vorher gewusst. Aber: Um die Zeit war es nicht gegangen.

Ich wollte mit Freunden laufen – und das Kapitel VCM endlich abhaken: Ich habe meinen Heim-, Hass- und Angstmarathon geschafft. Finally.

Jetzt kann ich mich auf die wirklich schönen Läufe konzentrieren. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 14.4.2015)

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