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Von der "Wohngemeinschaftsfamilie" zum "Patchwork zum Quadrat".

Foto: AP/ramer

Irgendwann einmal vor ungefähr zwei Jahren sagte Anna: "Wir sind eine Wohngemeinschaftsfamilie." Da war sie etwa zehn Jahre alt, mehr als drei Jahre, nachdem wir einander kennengelernt hatten. Oder besser: nachdem ich ihre – alleinerziehende – Mutter kennengelernt hatte. Wir heirateten nie und wollen diesen unanständigen Zustand auch nicht ändern.

Da aber Kinder sehr traditionsbewusst sind, fast ein wenig wertkonservativ, suchte Anna, sprachbegabt und fantasievoll, wie sie eben ist, einen Namen, der für sie passte. Mittlerweile haben wir ja sogar eine WhatsApp-Gruppe: "We are WGF", also "Wir sind eine Wohngemeinschaftsfamilie". Sie wird zwar kaum benutzt, aber für den Fall, dass wir einander Nachrichten hinterlassen müssten, ist es schon enorm wichtig, so eine Gruppe zu haben.

"Du musst sie dir färben!"

Natürlich fehlt der Vater. Jetzt hat Anna aber eine "WGFVF" zusätzlich, eine Wohngemeinschaftsfamilienvaterfigur. Bedauerlicherweise mit grauen Haaren, für die sie sich im Umfeld ihrer Klassenkameradinnen seit einigen Jahren doch sehr geniert: "Die Kinder glauben, du bist mein Opa! Du musst sie dir färben!" – aber alles in allem akzeptiert sie mich. Glaube ich. Zumal der Vater ja gar nicht weit weg ist – und da beginnt etwas, was sich in theoretischen Modellen über die moderne Familie schwurbelnde Buchautoren vielleicht gar nicht vorstellen können.

Der Vater hat zwei Schwestern. Beide haben Töchter. Die ältere, die ganz besonders Kreative, ist 14, begrüßt mich manchmal hüpfend und kann so herrlich dreckig lachen, dass ihr dafür ein Orden gebührt. Die jüngere ist fünf. Sie hat so lange Haare wie die Kaiserin Elisabeth, obwohl sie selbstverständlich eine Prinzessin und keine Kaiserin ist. Für sie bin ich Onkel Petersilio, und ich bin oft froh darüber, dass mein Vorname phonetisch im Petersil enthalten ist und nicht im Maggikraut. Die Kinder verstehen einander gut, besonders die beiden älteren sind zueinander wie ein Herz und ein Sinn, eigentlich wie beste Freundinnen, nicht wie Cousinen.

Patchwork total

Die drei Mütter der drei Kinder sind untereinander auch nicht viel anders. Annas Mutter, die, wenn man so will, die Ex-Schwägerin ist, wirkt im Familienverband beinahe wie eine ältere Schwester. Annas Großeltern, die in Vorarlberg in einem Einfamilienhaus leben, haben sie quasi adoptiert. Also natürlich nicht richtig adoptiert, Sie verstehen schon, was ich meine: Sie ist ein sehr gern gesehener Gast – und das nicht nur des lieben Friedens willen, um die Enkelin sehen zu können.

Das spürt man eigentlich schon, wenn man mit dem Zug in der Stadt ankommt, wo sie leben. Da leuchten beinahe die öden, grauen Bahnhofsmauern, wenn Annas Großvater lachend am Bahnsteig steht. Das fällt selbstverständlich allein schon deswegen auf, weil der Zug im tiefsten Winter aus dem nebelig, grantigen Wien kommt.

Niemand wird sich wundern, wenn ich jetzt sage: Die Großeltern laden auch mich ein, den Nachfolger des eigenen Sohnes, wenn man es traditionell sehen will: als Schwiegersohn. Seit Jahren schon sind wir zu Silvester dort.

Natürlich erst, nachdem wir gemeinsam mit Annas Vater Weihnachten gefeiert haben. Wenn schon Patchwork, dann total.

Kopfkratzen angesichts der "Familienbande"

Wenn wir diese "Familienbande" anderen Menschen beschreiben, ernten wir Kopfkratzen und Lächeln. Wenn wir dann noch eine zweite "Familienbande" beschreiben, eine ganz ohne Blutsverwandtschaft zu uns, dann ist alles aus. Ein steirisch-vorarlbergischer Schulfreund von Annas Vater ist seit einer halben Ewigkeit mit einer schwedischen Wissenschafterin zusammen – und lebt mit ihr und ihren drei Kindern in Solna bei Stockholm. Das ist eine Stadt, wo Kinder noch laut sein dürfen, ohne griesgrämige Blicke zu ernten, und viele Männer smart lächelnd Doppelkinderwägen durch die Straßen schieben.

Ein viertes, auch nicht ganz leises Kind fällt da nicht wirklich ins Gewicht, wenngleich sie deutlich größer ist als alle anderen. Da ist ein sehr lustiges Mädchen, elf Jahre alt, das im Augenbrauen-wechselseitig-Hochziehen Haltungsnote zehn bekommt. Und da sind zwei Buben: einer acht Jahre alt, blond wie einst Agnetha Fältskog von Abba, der stundenlang mein Fußballerwissen abklopft, was ihm am Ende nur ein mildes Lächeln entlockt. Der kleinere von beiden, zwei Jahre alt, trug zuletzt noch Windelhosen. Und so raste er lachend durch die Wohnung und brüllte dabei derart herzerfrischend, dass die Trommelfelle bebten.

Ein großer Charmeur, besonders wenn er morgens gegen acht Uhr zum Bett läuft und mit einem Lächeln "Hej!" sagt, das selbst allmorgendlich ermattete Mensch sehr schnell sehr munter macht.

In Annas Philosophie ist das die Wohngemeinschaftsfamilie zum Quadrat. (Peter Illetschko, derStandard.at, 14.4.2015)