Die Wiener Machtzentren liegen nur wenige Schritte voneinander entfernt: auf dem Ballhausplatz die Hofburg und das Bundeskanzleramt, direkt am Ring das Parlament und, etwas zurückversetzt, das Rathaus. Zwei Bildungs- bzw. Kulturmächte gehören dazu - die Wiener Universität und, von der politischen Nomenklatur notorisch unterschätzt, das Burgtheater.

Freilich ist es eine andere Art Macht, die von dort ausgeht - ein geistiger Einfluss, der schwer messbar ist, sich aber auf das Wahlverhalten der Besucher und die politischen Debatten in der Öffentlichkeit auswirkt.

Deshalb schalten autoritäre Regime oder diktatorisch gestimmte Fassaden-Herrscher zuerst die freie Presse aus oder verstaatlichen sie. Und wechseln dann die TV- und Theaterdirektoren aus - wie zuletzt in unmittelbarer Nachbarschaft, in Ungarn, geschehen.

Theaterfreiheit als politischer Motivator

Wer die Qualität einer Demokratie messen will, darf also nicht nur das Funktionieren der Gewaltenteilung und das Ausmaß der Medienfreiheit beurteilen. Die "Theaterfreiheit" gehört dazu. Sie ist sogar, reizt sie ihre Grenzen aus, ein politischer Motivator.

Ein Paradebeispiel war die Burg-Herrschaft Claus Peymanns - vor allem durch die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz - sie trieb die Vergangenheitsdebatte auf einen Siedepunkt.

Seitdem ist das Burgtheater nicht nur eine Stätte modern interpretierter klassischer Dramatik, sondern auch ein politischer Ort. Bis hin zu den Protesten gegen die schwarz-blaue Regierung Anfang der 2000er-Jahre. Die Peymann-Nachfolger Claus Bachler, Matthias Hartmann und neuerdings Karin Bergmann haben diese angriffige Tradition fortgesetzt, wenn auch verschieden interpretiert.

Rühren der Theaterbesucher

Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen beispielsweise erscheint wie der definitive Abschied vom (agitatorischen) Dokumentartheater. Die deklamatorisch wie poetisch ergreifende Überhöhung des europäischen Flüchtlingsdramas "rührt"die Theaterbesucher - viel mehr als jede Debatte im Stegreiftheater des Parlaments.

Als Europa Anfang des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Französische Revolution von Zensur und Dichterhatz überzogen war, gab es in Wien zur Zeit des Kongresses trotz Metternich ein Aufatmen der Theaterfreiheit. Ludwig van Beethovens Fidelio, die Oper über die Befreiung von despotischer Gewalt, wurde im Mai 1814 uraufgeführt und unter Begeisterungsstürmen oft wiederholt.

Im Unterschied zu deutschen Kleinstaaten und Berlin, wo viele Theaterstücke verboten waren, konnten sie in Wien während der Kongress-Zeit aufgeführt werden. Man gab sich liberal. Friedrich von Schillers Wallenstein kam an der Burg heraus, obwohl von der Zensur als "antiösterreichisch und antikaiserlich" eingestuft. Und die Räuber, später verboten, hielten sich auf mehreren Spielplänen, obwohl "revolutionär" und ein "alle Bande der Gesellschaft auflösendes Stück".

Den Heldenplatz hätten viele ebenfalls gerne verboten. Aber dazu fehlt heutzutage immerhin die Handhabe. Theaterfreiheit als Demokratie-Merkmal. (GERFRIED SPERL, DER STANDARD, 13.4.2015)