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Wenn institutioneller Missbrauch aufgedeckt wird, mache sich "konspiratives Schweigen" breit, sagt die deutsche Traumaforscherin Luise Reddemann.

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STANDARD: Regelmäßig werden Fälle von strukturellem Missbrauch aufgedeckt. Warum sprechen Sie von "konspirativem Schweigen"?

Reddemann: Erst wird so lange wie möglich nichts aufgedeckt und dann alles so rasch wie möglich wieder unter den Teppich gekehrt. Würden die Betroffenen nicht immer wieder an die Öffentlichkeit gehen, wäre das alles längst schon wieder vergessen. Die Gesellschaft deckt damit gewissermaßen die Täter. Es wurde lange geglaubt, dass wir uns vor diesen als problematisch erachteten Kindern schützen müssen, nicht umgekehrt die Kinder vor uns. Konspirativ ist das, weil viele Leute beteiligt sind, die an dem Vergessen ein Interesse haben, die nicht wollen, dass wir da hinsehen, und das regelrecht verhindern: Das können betroffene Institutionen sein, aber auch Behörden und Politiker. Ich befürchte, das ist bis heute so.

STANDARD: Warum fällt es vielen so schwer, sich diesen menschlichen Abgründen zu stellen?

Reddemann: Man will in unserer Gesellschaft nicht hören, dass viele Kinder schlecht behandelt werden, und wenn wir es selbst nicht tun, dass wir zumindest zulassen, dass es andere machen. Das ist kein neues Phänomen. In der Bibel gibt es die Stelle, wo der Sohn Davids seine Schwester missbraucht. David vergibt schlussendlich dem Sohn, die Tochter interessiert ihn nicht. Nach 5.000 Jahren Patriarchat steckt uns die Verachtung von Frauen und Kindern immer noch in den Knochen.

STANDARD: Stumpfen wir durch regelmäßige Berichterstattung ab?

Reddemann: Es gibt meist einen kurzen Aufschrei, aber dann heißt es schnell, das ist doch ein Einzelfall, in meiner Umgebung gibt es so etwas nicht, vielleicht war es doch nicht so schlimm. Wir können mit unserem Gewaltpotenzial nicht umgehen.

STANDARD: Was wäre der richtige Umgang mit Missbrauchsfällen?

Reddemann: Es sind eben keine Fälle, es geht um Menschen. Es ist wichtig, auf Augenhöhe mit den Betroffenen zu sprechen, ihnen zuzuhören und ihnen den berechtigten Anspruch auf Wiedergutmachung zuzugestehen. Davon sind wir weit entfernt. Derzeit werden leider aus Elefanten Mücken gemacht. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 9.4.2015)