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Als Entschädigung für ihre Zeit im Tiroler Kinderheim Martinsbühel bekam Sonja Graf 25.000 Euro von der Klasnic-Kommission. Was Missbrauchsopfer wirklich bräuchten, sei "eine kleine Pension", sagt Graf.

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Innsbruck – Sonja Graf will nicht mehr schweigen. Das hat sie lange genug. Nun soll die Welt von ihrer Geschichte erfahren, sagt sie. Von dem Ekel und Schrecken, der Gewalt, dem Missbrauch, der Ausbeutung: von den 14 Jahren ihres Lebens im Tiroler Landeskinderheim Martinsbühel – und wie Staat und Kirche danach mit ihr umgingen. "Sie hatten keine Skrupel, jetzt habe ich keine mehr", sagt Graf, zupft eine Zigarette aus der vollen Schachtel vor ihr und beginnt zu erzählen.

Mit sieben Jahren, so ist es auch den Akten zu entnehmen, kam Sonja Graf nach Martinsbühel, ein Benediktinerinnenkloster mit angeschlossenem Mädchenheim und Sonderschule. Ihre Mutter hatte 15 Kinder, von denen bis auf zwei alle fremdversorgt wurden, ihr Vater war zur Zeit ihrer "Inhaftierung", wie sie die Unterbringung in Martinsbühel nennt, bereits im Altersheim.

Mit bloßen Füßen das Feld umstechen

Heute ist Graf 62 Jahre alt, doch an gewisse Erlebnisse erinnert sie sich in allen Einzelheiten: etwa daran, wie sie regelmäßig um fünf Uhr morgens aus dem Bett gezerrt wurde, um dann mit bloßen Füßen das Feld umzustechen; an das Gefühl, vor den anderen Kindern von den Schwestern gedemütigt zu werden; oder auch an das Geräusch, wenn der Pfarrer nachts in Unterhosen vor ihrem Zimmer stand und gegen die verschlossene Türe hämmerte.

Graf ließ bei der zuständigen Innsbrucker Ombudsstelle und der Klasnic-Kommission alles exakt dokumentieren: Schläge, Bestrafung mit folterähnlichen Methoden, Vergewaltigungen durch den Pfarrer und Schwestern sowie schwere körperliche Arbeit in Küche und Garten standen "auf der Tagesordnung", erzählt Graf. Im Haushalt sei so viel zu tun gewesen, dass sie meist nur zweimal die Woche die Schule besuchen durfte.

"Nur so lassen sich diese Sadismen erklären"

"Meine schlimmste Erinnerung ist die von dem Tag, als ich meine erste Menstruation bekam", sagt Graf. "Da haben mich vier Ordensschwestern in das Zimmer vom Pfarrer gezerrt und mich aufs Bett geworfen. Jede hielt mich an einer Gliedmaße fest. Dann wurde mir ein Besenstiel eingeführt." Als die damals Elfjährige vor Schmerzen schrie und weinte, habe ihr eine der Schwestern auf den Mund gespuckt und ihn danach mit einem Pflaster zugeklebt.

Graf ist nicht die Einzige, die von solchen Vorfällen berichtet. Der Historiker Horst Schreiber, der in seinem Buch "Im Namen der Ordnung" Missbrauch in Tiroler Heimen erstmals dokumentierte, kennt diese Erzählungen auch von anderen "Ehemaligen" aus Martinsbühel: "Dieses Heim war absolut abgeschottet, es gab kein Korrektiv, keine ausgebildeten Betreuer für die Kinder mit Behinderungen. Die Schwestern waren schwer überfordert, und die Kinder aus den Unterschichten verkörperten das Böse für sie. Nur so lassen sich diese Sadismen erklären."

Bis heute schwere Folgen

Am 31. Dezember 1974, mit 21 Jahren, wurde Sonja Graf aus Martinsbühel entlassen. Sie hatte zuvor mehrere Male versucht davonzulaufen. Einmal schaffte sie es bis zur Polizeistation, wurde dort aber nicht ernst genommen und wieder zurückgebracht. "Die Hölle kann nicht schlimmer sein", sagt Graf über ihre Kindheit.

Sie hat mehrere Suizidversuche hinter sich, leidet an Verfolgungsängsten, vier Jahre lang saß sie wegen psychosomatischer Lähmungserscheinungen im Rollstuhl. Die Klasnic-Kommission hat Graf die Höchstsumme von 25.000 Euro zugesprochen: "Das gleicht nicht einmal das aus, was die mir schulden. Ich wurde für die Arbeit im Heim nicht entlohnt, Gelder, die für mich verwahrt wurden, habe ich nie bekommen. Außerdem war ich mein halbes Leben lang arbeitsunfähig." Sie fordert, dass Missbrauchsopfer eine kleine Pension erhalten. "Ohne meinen Mann könnte ich finanziell nicht überleben."

Kurzes Treffen mit Bischof Küng

Vor ein paar Wochen hat Graf, wie vonseiten der Klasnic-Kommission angeboten, einen Termin mit Bischof Klaus Küng in Anspruch genommen. Sie fuhr dafür rund 700 Kilometer nach Niederösterreich. "Er ließ mich über eine Dreiviertelstunde warten", sagt Graf. Als sie ihm ihre Geschichte erzählen wollte, habe Küng gesagt, dass er das gar nicht so genau wissen wolle. "Nach 15 Minuten hatte er einen anderen Termin."

Die Medienreferentin der Diözese erklärt: "Der Termin wurde an den Herrn Bischof mit dem Wunsch von Frau Graf herangetragen, sich bei ihm persönlich für die Entschädigungszahlungen zu bedanken. Daher wurde ein kurzer Termin veranschlagt." Bischof Küng habe Graf aber das Angebot gemacht, ein Schreiben mit ihren Einwänden an ihn zu richten. Darauf hat sie verzichtet. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 9.4.2015)