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Ethnologie: Michel Foucault besuchte auf Einladung der Merve-Macher die Berliner "Stadtindianer".

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Wien - Der Erfinder des linken Theorie-Hypes hatte von Lohnarbeit wenigstens eine periphere Ahnung. Peter Gente (1936-2014) jobbte gegen Ende der 1950er in den Spandauer Siemenswerken am Fließband. Damit finanzierte der Westberliner sein Jusstudium. Durch Zufall geriet der aufgeweckte junge Mann an Theodor W. Adornos Minima Moralia. In den Reflexionen aus dem beschädigten Leben wurde der bürgerlichen Epoche der Prozess gemacht. Adornos Band enthielt in kleinen Dosen ein hochwirksames Gift. Wer in den Bann des Frankfurter Philosophiedozenten geriet, war für die Sache der konservativen Restauration in Nachkriegsdeutschland zur Gänze verloren.

Gente bleibt als Held in Philipp Felschs Geschichtsbuch Der lange Sommer der Theorie eigentümlich blass. Der Westberliner wurde unter dem Einfluss von Adornos "Negativer Dialektik" nicht etwa zum Autor. Gente lebte fortan als Lesebesessener. Die Studenten begehrten auf und verlangten nach Theoriefutter. Hatte die Philosophie vordem Ideengeschichte getrieben, so lief sie nunmehr der Poesie den Rang ab. Die linke Intelligenz entwickelte Mitte der 1960er-Jahre einen wahren Heißhunger auf marxistische Erbauungs- und Erweckungsliteratur.

Gentes Start als Verleger von Merve-Büchern stand demgemäß unter dem Zeichen der Zweckmäßigkeit. Philosophie wurde unter dem Begriff "Theorie" neu abgepackt. Theorieschmöker sollte man leger in die Manteltasche stecken können. Wer unvermeidlicherweise jemals mit (frühen) Merve-Bändchen in Berührung gekommen ist, weiß, was das bedeutet. Die geleimten Bücher im Taschenformat zerfielen so rasch, wie man sie an-, geschweige denn ausgelesen hatte.

Zugleich begleiteten Gente und sein wechselndes Herausgeberkollektiv die Umstürze der linken Revolution an verantwortlicher Stelle. Die Bücher mit der einfarbigen Raute spiegeln die Permanenz des Theoriegeschehens wider. In der windgeschützten Bucht namens Westberlin machte man sich um den Import von Denkanstößen verdient. In origineller Umgehung des Copyright-Gedankens goss man die Verlautbarungen von Louis Althusser und anderen Links-Esoterikern zwischen weiche Deckel.

Die 1970er-Jahre brachen an, die linke Szene war um die Lösung alter Widersprüche bemüht: Geforscht wurde nach der "realisierten Antizipation emanzipatorischer Praxis". Zu dieser gehörte ein betont laxer Umgang mit der Frage nach dem geistigen Eigentum. Als man immer öfter das Schrifttum französischer Meisterdenker kaperte, zeigten sich manche Betroffene wenig amüsiert. (Althusser verlangte den Abschluss eines rückwirkenden Vertrages.) Im Windschatten der allgegenwärtigen "Suhrkamp-Kultur" wurde Herrschaftswissen von Gente und seiner Frau Heidi Paris (1950-2002) in neue Diskurse zerlegt. Ein Glücksfang gelang den Berlinern mit Michel Foucault. Der Meistertheoretiker brach in das ferne Berlin auf, wo er auf der berühmten "Tunix"-Konferenz 1978 dem Zerfall der Linken beiwohnte. Die Spontis und Stadt-Indianer rüsteten um. Gefragt wurde nach glaubwürdigen Bedingungen für ein alternatives Leben.

Das Patchwork der Minderheiten wurde von Merve in appetitliche Lesehappen zerkleinert: solche von Lyotard, Baudrillard, Virilio und zahllosen anderen. Nie wieder war Theorie dermaßen sexy. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 8.4.2015)