Die dicken Stiefel stolpern durch zwanzig Zentimeter Sulzschnee, die Handschuhe halten junge Triebe zur Seite, die ständig zurückpeitschen. Andere sind hier vor uns gegangen. Wir wissen das, weil sie ihre Spuren im Schnee hinterlassen haben: Baummarder, Marderhunde, Rehe, Elche, Wölfe. Marko Kübarsepps Erklärungen kommen kurz, präzise, kein Wort zu viel. Mit Menschen plaudern ist seine Sache nicht – aber auch nicht sein Job. Er ist Estlands Wolfsbeauftragter und dafür zuständig, dass es nicht weniger als 150 Wölfe werden im Staate. Das hat man beim Beitritt zur Europäische Union vor elf Jahren versprochen.

Foto- und Gummifallen

Momentan sieht es gut aus, die Population ist stabil. Dafür streift Kübarsepp 300 Tage jährlich im Wald herum, stellt Foto- und Gummifallen auf und versucht, Tiere mit Sendern auszustatten, notiert ihre Spuren, markiert Reviere, registriert Nachwuchs. "Das ist eine Art zu leben, kein Beruf", meint der 37-Jährige, der schon als Kind bei Oma und Opa im Landhaus als Erstes mit dem Wildspurenbuch im Wald verschwand. Zu Großmutters Glück war es die falsche Ecke Estlands für Wölfe. Damals, das hat sich geändert.

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Ist die Schneeschmelze erst einmal richtig in Gang, sind der Spuren der Wölfe nur mehr schwer nachzuverfolgen.

Just hier am See Võrtsjärv hat er vor ein paar Tagen einen Beuteplatz entdeckt, an dem ein Rudel einen Elch erlegte. Ein Gebiss, ein paar halbe Knochen, ein Stück Geweih, Fellbüschel – mehr ist heute Morgen nicht mehr zu sehen. Die Natur hat in gewisser Weise gute Tischmanieren. Ob die Tiere uns jetzt beobachten? Selbst Kübarsepp, der Hundi Bioloogia, wie Wolfsbiologe auf Estnisch heißt, bekommt die scheuen Raubtiere fast nie zu Gesicht.

Zehn Prozent Nationalpark

Estland ist eines der kleinsten Länder Europas, etwa halb so groß wie Österreich, und fast skandinavisch dünn besiedelt, was viel Einsamkeit für Tiere lässt. Auf der Hälfte der Fläche wächst Wald, an manchen Stellen finden sich sogar Urwälder. Zehn Prozent Estlands sind Nationalpark. Der Tourismus wächst beständig, hat aber vor allem den Sommer im Blick.

Fährt man in der kalten Jahreszeit durchs Land, scheint über weite Strecken wechselndes Wild eine realistischere Gefahr als entgegenkommender Verkehr. Und da geht es nicht nur um Rehe und Wildschweine. In Estland leben noch Nerze und Elche, Biber und Auerhähne, Füchse und Luchse, Waldohreulen und Störche. Auch Braunbären trollen sich gar nicht so selten auf dem Asphalt. Es leben Hunderte von ihnen im Schutz der Wälder, wo auch die Wölfe ihre Reviere abstecken.

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Im Nationalpark Soomaa liegt das größte Hochmoor Europas.

Fünfzig Kilometer Richtung Westen, im Nationalpark Soomaa, am Rande einer großen Lichtung horchen wir in die schwarze Nacht hinein. Was da heult, ist nur der Wind. Unterm Beobachtungsturm rauscht vom Eis versteckt ein Bach. Noch ein paarmal probiert Bert Rähni durch seinen Ruf die Wölfe anzustacheln. Er hat Naturtourismus studiert und erkundet seit Jahren Estland, hat mit Freunden ein Reiseunternehmen gegründet, um Touristen unter anderem auf die Fährte der Wölfe zu bringen. Dieses Jahr allerdings noch nicht, denn dafür braucht es eine dick verschneite Landschaft, in der sich Spuren länger halten.

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Nach der Schneeschmelze werden alle Wege durch den Nationalpark Soomaa zu Wasserwegen - dann haben die Kajaks Hochsaison.

So stapft Rähni stattdessen mit seinen Gästen auf Schneeschuhen durch den Nationalpark zu einem Hochmoor, dem größten Europas. Hochsaison ist hier nach der Schneeschmelze Ende März, wenn alle Wege zu Wasserwegen werden. Man nennt das die fünfte Jahreszeit, in der Hunderte Kajaks unterwegs sind. Auch die fünfzig Bewohner des Nationalparks bewegen sich dann paddelnd fort.

Nachbarschaftlicher Tausch

"Einer der Bauern bringt seine Kühe immer auf einer Brücke in Sicherheit", erzählt Algis Martsoo. Er lebt hier mit Frau und Kindern, die er jeden Tag fast zehn Kilometer zum Schulbus bringen muss. Die Nachbarn tauschen Fleisch gegen Milch gegen gesammelte Beeren und Pilze. Ein Geschäft gibt es nicht, dafür wie überall in Estland Internet. Das Recht darauf ist sogar im Grundgesetz festgeschrieben. Egal wie dünn besiedelt das Land sein mag – vom digitalen Leben abgeschnitten ist man nirgends.

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"Der Rollator ohne Rollen" ist ein traditionelles Gefährt in Estland. Im Winter verwendet hier fast jeder den einfachen Tretschlitten.

Mit spikebewehrten Sohlen schubsen wir den Tretschlitten immer ein Stückchen weiter. Eine Art Rollator ohne Rollen, mit dem man über die zugefrorene Matsalu-Bucht im Westen des Landes schlittert. Noch ist die Ostsee hier eine Eisplatte. Knacks! Die Fläche arbeitet – schlechtes Gefühl. "Ganz normal", sagt Triin Ivandi. Es ist trotzdem eines der letzten Male in diesem Frühjahr, dass sie mit einer Gruppe aufs Eis geht.

Rote Pickel um den Hals

Es zeigen sich Brüche, über die man nur einzeln fahren soll und die sich binnen Stunden in meterweite Spalte verbreitern. Die 30-Jährige testet mit ihrem Prüfstecken immer wieder die Stabilität. Wir tragen unser Leben um den Hals: zwei rote Griffe mit Metallspitzen. Sollten wir einbrechen, müssen wir diese Pickel ins Eis hauen und uns daran rausziehen.

Auch wenn die Tretschlitten, die wir verwenden, modern sind, ist das Gefährt traditionell. "Meine Mutter hat mich damit früher in die Schule gebracht", erzählt Ivandi, die an der Küste aufgewachsen ist. Friert die Ostsee richtig dick zu, werden zu den vorgelagerten Inseln sogar offizielle Eisstraßen freigegeben, kontrolliert vom Straßenverkehrsamt.

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Beim Eisfischen zeigen sich die ersten Spalte auf der gefrorenen Oberfläche derb Ostsee.

Ganz am anderen Ende des Landes, auf dem ebenfalls noch zugefrorenen Peipus-See, werden gerade mit einer Spiralkurbel Löcher ins Eis gedrillt. Dann eine rote Fliegenmade an den Haken und rein mit der Schnur. Die Eisangeln sind nur zwanzig Zentimeter lang und leicht wie Spielzeuge. Viel tun kann man nicht, außer warten – und estnischen Wodka trinken, rauchen. Doch die Fische beißen gut, die Plastiksackerln der Esten füllen sich zusehends. Es sind Privatleute, aber auch Berufsfischer, die zu Fuß oder mit Karakatitsas, Gefährten aus Schrottautos und Ballonreifen, kilometerweit auf den See hinausfahren, durch den die EU-Außengrenze verläuft.

Estin mit Mission

Mit drei Jahren durfte Triinu Akkermann zum ersten Mal Eisfischen, mit ihrem Vater. "Wenn ich auf den See komme, ist das für mich Frieden", schwärmt die 33-Jährige. Letzte Woche saß sie vier Stunden für acht kleine Fische – und war trotzdem über die Maßen zufrieden. Wird einem dabei nicht kalt? "Manchmal schon", lacht sie, "aber die Emotionen wärmen." Sie ist Jungunternehmerin und hat eine Mission: Events an ungewöhnlichen Orten wie etwa Caterings auf dem Eis und Kochworkshops in Tartu zu organisieren. Sie möchte die Esten wieder ans Regionale heranführen: "Wir alle wissen, wie man Pasta macht, aber wir haben vergessen, dass unsere Wälder voller Essen sind."

Die "fünfte Jahreszeit" mag ein klimatischer Brückenschlag zwischen dem Winter und dem Frühjahr sein. Viele Esten hoffen aber derzeit auch auf ein politisches Tauwetter.
Foto: Anja Martin

Noch ein letztes Mal in diesem Frühjahr wollte sie auf dem Eis ein Event veranstalten, doch die Behörde hat es nicht mehr erlaubt. Es taut. Der Winter scheint vorbei, bevor er richtig da war. Für die Fischer ist das bedrohlich, sie haben lange nicht so viele Fische aus den Löchern gezogen, wie sie bräuchten. Zudem wäre den Esten politisches Tauwetter lieber als klimatisches. Nur ein paar Kilometer weiter Richtung Osten ist das Eis schon russisch. Man fühlt sich relativ sicher als Nato- und EU- Mitglied. Aber ein wenig besorgniserregend ist das alles doch – die nicht so eisigen Winter und die durchaus eisige Nachbarschaft. (Anja Martin, DER STANDARD, 04.04.2015)