Geert Wilders Ende März bei seinem Auftritt in der Wiener Hofburg.

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Ist es ein Sinnbild für die derzeitige Situation? Geert Wilders, Apostel des Islamhasses, der den Koran als "islamischen 'Mein Kampf'" bezeichnet und dessen Verbot fordert, spricht Ende März in der Hofburg, einem der symbolischen Zentren der Republik, über die Gefahr der "Islamisierung". Er nennt den Islam eine "Bedrohung für unsere Gesellschaft" und meint, dass sich der Westen in einem Krieg mit dem Islam befinde. Und es folgt nur verhaltener Protest – weil man ihm recht gibt? Weil man wegen der Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) und der Attentate in Europa unsicher ist, ob er nicht recht hat?

Dabei ist bei einer sachlichen Beurteilung klar, dass kein "clash of cultures" stattfindet, sondern Muslime die Hauptbetroffenen der radikalen Gruppen sind: Allein im November 2014 kamen bei jihadistischen Attentaten weltweit 5.042 Menschen ums Leben, davon stammten 86 Prozent der Opfer aus Ländern mit muslimischer Mehrheit. Das heißt, die überwältigende Mehrheit der Opfer jihadistischen Terrors sind Muslime und Zivilisten (Quelle: International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence, ICSR).

Reine Polemik

Es ist vollkommen klar, dass zwischen den jihadistischen Gruppen und dem Mainstream des Islam ein substanzieller Unterschied besteht. Wenn dieser Unterschied dennoch verwischt und aufgehoben wird und militante Islamisten und die überwiegende Mehrheit der Muslime, die mit ihnen nichts am Hut haben, über den einen Begriff "Islam" verschmolzen werden, dann ist das reine Polemik aus bestimmten Interessen. Rechtsextreme Parteien wie der Front National wissen seit den 1970er-Jahren, wie ergiebig es politisch ist, über die kollektiven Emotionen des Unbehagens und der Skepsis gegenüber Zuwanderung und Islam zu mobilisieren. Die alten fremdenfeindlichen Ressentiments können nun mit dem negativen Islambild gerechtfertigt werden.

Apologetische Interessen

Ebenso gibt es kirchliche Vertreter, die ein apologetisches Interesse daran haben, den Islam insgesamt zu diffamieren, um das Christentum als einzig staatstragende Religion hervorheben zu können. Ein markantes Beispiel ist ein Beitrag in der "NZZ" von Martin Rhonheimer, Opus-Dei-Priester und Professor an einer katholischen Universität in Rom, der eine intensive Debatte auslöste: Die IS sei keine Häresie, sondern entspreche dem Wesen des Islam, das bereits von seinen Grundlagen her gewaltförmig sei. Darin bestehe auch der Grund für "die intellektuelle Not muslimischer Intellektueller: Sie können aufgrund ihrer religiösen Tradition den IS-Terror nicht prinzipiell verurteilen." (NZZ, 6.9.2014)

Keine Gewaltreligion

Auch wenn viele Stimmen unter dem Eindruck der Gräueltaten der IS in den Chor, der Islam sei eine Gewaltreligion, einstimmen – dieses pauschale Urteil ist falsch. Das zeigt etwa der "Brief an Baghdadi", den 120 bedeutende Gelehrte der muslimischen Welt am 24. September 2014 veröffentlichten und in dem sie der IS auf Basis des traditionellen islamischen Rechts 24 Vergehen vorwerfen und diese Punkt für Punkt verurteilen.

Sie stellen in diesem Brief an den selbsternannten Kalifen und seine Anhänger unter anderem klar, dass es im Islam verboten ist, Christen und anderen Schriftbesitzern zu schaden, Menschen zur Konvertierung zu zwingen und Sendboten beziehungsweise Journalisten zu töten. Ebenso halten sie auf Basis des geltenden islamischen Rechts fest, dass der Jihad im Islam nur als Verteidigung eines muslimischen Gebiets gegen Aggressoren unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sei, und stellen explizit klar: "So gibt es keinen offensiven und aggressiven Jihad, nur weil Menschen einer anderen Religion angehören oder eine andere Meinung vertreten." (lettertobaghdadi.com)

Differenzierung ist unabdingbar

Hier wird der kategoriale Unterschied zwischen der jihadistischen Bewegung, die sich ihre eigene rechtliche Legitimation konstruiert und auf eine gewalttätige Islamauslegung stützt, und dem Mainstream des Islam, dem islamischen Recht und der islamischen Theologie, unzweifelhaft deutlich. Diese Differenzierung wird von Polemikern wie Wilders und anderen abgelehnt. Sie ist aber unabdingbar, will man die Bruchlinien in der Gesellschaft nicht verstärken, indem man sunnitische Muslime allgemein mit dem jihadistischen Terror in Verbindung bringt. Ein solcher Diskurs spielt letztlich den radikalen Salafisten in die Hände, die mit dem Motiv der Verschwörung des Westens und der Opferrolle der Muslime die muslimische Mehrheit auf ihre Seite ziehen wollen.

Verantwortungsvolle Meinungsbildung

Eine solche Assoziierung erfolgt, wenn Politiker in Österreich nach den Attentaten in Paris eine öffentliche Debatte über ein Kopftuchverbot oder über "Integrationsunwilligkeit" lostreten. Damit wird diskursiv und gedanklich ein Zusammenhang hergestellt zwischen österreichischen muslimischen Frauen, die den Hijab tragen, und jihadistischem Terror, zwischen patriarchal gesinnten Männern türkischer Herkunft, die der Lehrerin nicht die Hand geben wollen, oder muslimischen Eltern, die nicht zum Elternsprechtag gehen.

Damit mögen echte Integrationsdefizite benannt sein – sie haben aber nichts mit Al-Kaida, IS, den Taliban und Boko Haram zu tun und sollten nicht damit vermischt werden, will man nicht eine ganze soziale Gruppe stigmatisieren. Gerade in einem so brisanten Themenfeld gibt es eine "Ethik der verantwortungsvollen Meinungsbildung" (Carlo Strenger) und öffentlichen Diskussion, der man hier nicht ausreichend nachgekommen ist.

Man muss damit rechnen, dass es im Zug der global agierenden jihadistischen Bewegung zu weiteren Anschlägen in Europa kommen kann und dass sich dadurch die politischen und gesellschaftlichen Polarisierungen weiter verschärfen. Die gesellschaftliche Mitte und ebenso der überwiegende Mainstream des Islam würden dadurch weiter unter Druck kommen: seitens der Jihadisten einerseits und von islamfeindlichen Bewegungen, die von dieser Situation politisch profitieren, andererseits.

Bündnisse mit Muslimen

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Wenn die moderate Mitte nicht zwischen radikaler Politik und radikaler Religion zerrieben werden soll, dann bleibt uns im Grunde gar nichts anderes übrig, als dass sich die Gesellschaft einen Ruck gibt. Wir müssen zu einer rationalen Beurteilung der gegenwärtigen Situation gelangen: zu einer glasklaren Differenzierung zwischen der Weltreligion Islam und den devianten, extremistischen Ausprägungen. Wir müssen zu Bündnissen mit den Muslimen kommen, zu einem entschlossenen gemeinsamen Auftreten sowohl gegen die Umtriebe salafistischer Splittergruppen als auch gegen pauschale Islamfeindlichkeit.

Im Vorgehen gegen Radikalisierungsprozesse unter Jugendlichen, gegen die Ausreise in die syrischen Kampfgebiete, sind muslimische Autoritäten wie Imame und Religionslehrer wichtige Kooperationspartner. Wir müssen – zusätzlich zu Anstrengungen im sicherheitspolitischen Bereich, die gegenwärtig dominieren – zusammen mit den muslimischen Organisationen eine Agenda für sozialen Zusammenhalt umsetzen, mit der man nicht erst auf Radikalisierung reagiert, wenn es zu spät ist, sondern den Nährboden für Radikalisierungsprozesse unter Jugendlichen so weit wie möglich austrocknet: instabile soziale Verhältnisse, mangelnde religiöse Bildung, Abbruch der Schullaufbahn, Diskriminierungserfahrungen in Schule und Beruf, berufliche Perspektivenlosigkeit und so weiter.

Krise als Chance

Insofern bietet die schwierige Situation seit Sommer vergangenen Jahres, seit dem Vormarsch der IS, mit den Attentaten in Europa, den Syrien-Kämpfern aus Österreich, dem Aufflammen von Pegida und dem Zulauf für rechtspopulistische Parteien auch eine Chance: Der Problemdruck könnte zu vermehrten Anstrengungen im Bereich der primären, umfassenden Prävention und der sozialen Inklusion motivieren. Im Vergleich zu Frankreich mit seinen ghettoartigen Vorstädten und massiven gesellschaftlichen Bruchlinien befinden wir uns dabei in einer besseren Ausgangslage. Diese sollten wir nützen. (Ernst Fürlinger, derStandard.at, 8.4.2015)