Historiker Stefan Karner bezeichnet Renner als geschmeidigen Realpolitiker.

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STANDARD: Inwiefern sind die Originalbriefe Renners an Stalin aufschlussreich?

Karner: Es ist natürlich eine Sensation, dass wir sie erstmals in Österreich im Original sehen können. Den russischen Archiven ist dafür zu danken. Die Doppelzüngigkeit Renners ist frappierend. Im Originalbrief sieht man Renners Zusatz: "Dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung." Renner war klar, dass Stalin darunter etwas anderes verstehen wird als er selbst. Er hat hier realpolitisch geschickt agiert und sich alle Optionen offengehalten. Stalin hat Renners Regierungsbildung unterstützt. Erst später hat er gemerkt, dass er sich in Renner getäuscht hatte.

STANDARD: Waren Stalin Renners politische Wendungen, etwa 1938 für den Anschluss an Hitler-Deutschland, bekannt?

Karner: Ja, klar. Das war es ja gerade. Stalin wusste genau, wen er vor sich hatte. Und genau deshalb ließ er Renner suchen, machte er die Einsetzung einer provisorischen Staatsregierung für Österreich sofort zur Chefsache und trat explizit für Renner an deren Spitze ein. Er wusste um dessen Achillesferse 1938. Er glaubte, etwas gegen ihn in der Hand zu haben.

STANDARD: Eine Fehleinschätzung.

Karner: Allerdings. Vielleicht hat Renner in den ersten Apriltagen, als ja noch Krieg war, Wien noch gar nicht eingenommen war, sogar in Richtung Sozialismus geschwankt, doch hielt er sich mit dieser doppelzüngigen Formulierung alles offen. War es bauernschlau, wie einige meinen? Ich meine, es war einfach typisch Renner. Als er merkte, dass die Westmächte seine Regierung nicht anerkannten, weil sie den Eindruck einer sowjetischen Marionettenregierung machte, stellte er sehr schnell klar, dass dem nicht so ist, und spielte sich von den Sowjets frei. Das hat Stalin sehr enttäuscht, und schon Ende 1945 begann die interne sowjetische Kampagnisierung gegen Renner.

STANDARD: Dabei hatte Renner Stalin angeboten, die Regierung zu "entfaschisieren", was bedeutete, keine ÖVP-Minister zu berufen.

Karner: Ja, Raab hatte er 1945 als Minister auch abgelehnt. Stalin wollte an sich eine breite Regierung, eine Art Volksfront, und hoffte, dass sich in ihr die "progressiven Kräfte" schon durchsetzen würden. Renner sollte dafür den nützlichen Staatsmann abgeben. Umso konsternierter war Moskau über das Wahlergebnis 1945, das eben keine linke Mehrheit in Österreich erbrachte, sondern eine Absolute für die ÖVP. Diese Erfahrung hatte dann weitreichende Auswirkungen auf die weitere Besatzungspolitik der Sowjets. Stalin sagte: "Das darf in unserer Zone in Deutschland nicht passieren." Er verfügte, dass in der Ostzone Deutschlands die Einheitspartei SED aus SPD und KPD unter Führung der Kommunisten gebildet wurde - mit all den bekannten historischen Folgen.

STANDARD: 2012 hat der ehemalige ÖVP-Politiker und Historiker Franz Schausberger antisemitische Äußerungen Renners thematisiert. Muss die SPÖ ihr Verhältnis zu Renner neu bewerten?

Karner: Die Frage ist von der SPÖ zu beantworten. Unter Historikern herrscht seit langem ein weitgehender Konsens über Renners Rolle. Er war Sudetendeutscher, ein Realpolitiker, geschmeidig, agierte meist so, wie es ihm in der jeweiligen Situation, auch für seine Karriere, am optimalsten erschien. Österreich hat das 1918/19 und 1945 geholfen, 1938 wohl nicht. (DER STANDARD, 7.4.2015)