"Man muss beim Übersetzen an die Ewigkeit denken - aber die Ewigkeit ist kurz": Adan Kovacsics.

Foto: Robert Newald

STANDARD: In Ihrem 2008 in Spanien erschienenen Buch "Guerra y lenguaje" (Krieg und Sprache) beschäftigen Sie sich mit Österreich. Sie beschreiben zwei Sprachkrisen im frühen 20. Jahrhundert. Die eine ist eine ästhetische Krise, die andere betrifft die Rolle der Sprache im Krieg. Wie kam es zu dieser Krise?

Kovacsics: Während des Ersten Weltkriegs wurden literarische und journalistische Erzeugnisse gezielt propagandistisch eingesetzt. Sprache wurde zum Mittel. Diese Entwicklung haben damals einige Intellektuelle bemerkt. Kraus, Benjamin und auch Wittgenstein sind zu ganz ähnlichen Schlüssen gekommen: dass Sprache nicht ein Mittel ist, dass sie selbst Ausdruck ist. Was in der Sprache gesagt wird und nicht was durch die Sprache gesagt wird, ist wichtig. Das ist der Kern meines Buches.

STANDARD: Sie schildern die Zeit des Kriegsbeginns in Wien, die Reaktionen der Schriftsteller. Welche Möglichkeiten gab es für diese?

Kovacsics: Rilke hat 1916 seinen Militärdienst im Kriegsarchiv geleistet. Er musste mit dem Lineal irgendwelche Linien ziehen, weil er nicht machen wollte, was andere, wie Zweig oder Polgar, machten: Helden "frisieren", so hieß das. Sie schrieben Texte über Soldaten und Offiziere, die als Helden stilisiert wurden. Rilke hat das verweigert, und doch hat er den Militärdienst dort geleistet.

STANDARD: Überall in Europa wurde der Krieg von den meisten Schriftstellern mit großer Begeisterung begrüßt. Auch von Rilke gab es glühende Zustimmung. Wann ist das gekippt?

Kovacsics: Ja, ganz am Anfang sprach er noch von einem Kriegsgott, aber das ist sehr bald abgekühlt. Es kam bei ihm zu einer großen Schaffenskrise, die eng mit dem Krieg zusammenhing. Rilke ist ja durch Protektion in das Kriegsarchiv gekommen. Einer, der sich für ihn bemüht hat, war Karl Kraus, dessen Geliebte Sidonie Nádherný mit Rilke befreundet war. Kraus ist mit Rilke ins Ministerium gegangen, um diese Sache zu regeln. Das ist auch deswegen wichtig, weil es zeigt: Kraus war ja gegen diese Protektionswirtschaft und gegen das Kriegsarchiv, und doch unternahm er Schritte, um jemanden zu protegieren. Er war drin.

STANDARD: Diese Situation schildern Sie auch in Ihrem soeben in Chile erschienenen Buch über Kraus ("Karl Kraus en los últimos días de la humanidad"). Kraus war einer der ganz wenigen Intellektuellen, die von Beginn an gegen den Krieg waren.

Kovacsics: Genau, in beiden meiner Bücher ist von Kraus' Schweigen am Anfang des Krieges die Rede. Kraus und auch Benjamin haben geschwiegen. Was passiert, musste aufgearbeitet werden. Bei Kraus hat es Monate gedauert, bis er sich wieder öffentlich geäußert hat und gegen den Krieg aufgetreten ist. Daher ist auch die Fackel von Juli bis Dezember 1914 nicht erschienen.

STANDARD: Warum?

Kovacsics: Die unverzügliche Reaktion ist die Reaktion der Presse. Das sah man erst zuletzt bei dem Flugzeugunglück, es werden sofort Hypothesen aufgestellt - diese sind am nächsten Tag schon hinfällig und am dritten Tag die vom zweiten. Die Presse muss so agieren, sie kann nicht schweigen. Kraus hat die Presse als einen ganz wesentlichen Förderer des Krieges kritisiert. Wenn man sieht, wie viele Manifeste es sofort in Deutschland für den Krieg gegeben hat, diese Einheit von Militär und Geist in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn. Deswegen auch das Schweigen von Kraus - es gab ein wahnsinniges Geschrei. Jeder wollte an erster Stelle sein und noch lauter für den Krieg eintreten als der Danebenstehende.

STANDARD: Deutsche Schriftsteller wie Thomas Mann führten in ihrer Rhetorik die Überlegenheit ihrer Kultur ins Feld, die Italiener hofften auf eine glorreiche (Wieder-)Geburt ihrer Nation. Was motivierte die österreichischen Schriftsteller?

Kovacsics: Das war eine europäische Erscheinung. Vom k. u. k. Kriegsministerium wurden schon 1909 Richtlinien ausgegeben, wie man die Presse zu behandeln hatte. Das war ganz modern, dass man nicht nur verbietet. Das Funktionieren der Presse und Literatur für den Krieg war gezielt. Das andere ist: Warum kam es zu dieser wahnsinnigen, heute unverständlichen Situation, dass die Schriftsteller so begeistert für den Krieg eintraten, als hätten sie ihn erwartet und gewünscht?

STANDARD: Gab es die in mancher Rhetorik auftretende Verbindung von Kunst und Krieg?

Kovacsics: Kraus sagte, dass im Geist der Literaten und Künstler alles bereit war für den Krieg. Er hat auch gesehen, dass die Ästhetik, die geherrscht hat, dafür sehr geeignet war. Womöglich ist die ganz besondere Rolle der Kunst wie immer spezifisch österreichisch. Das ist aber schnell vergangen. 1917 haben die Schriftsteller nicht mehr so gesungen wie 1914.

STANDARD: Der Erste Weltkrieg war der erste auch medial ausgetragene Krieg. Kraus hat den "Letzten Tage der Menschheit" eines der schrecklichsten Propagandabilder vorangestellt: das Foto des grinsenden k. u. k. Henkers Josef Lang mit dem toten italienischen Irredentisten Cesare Battisti.

Kovacsics: Dieser lächelnde Henker mit dem Gehenkten, das ist für mich ein Selfie! Erschütternd, mit der Meute der Menschen, die sich dazu drängen - ein entsetzliches Bild. Kraus hat diese Figur das österreichische Antlitz genannt, das ist für mich ein Symbol dafür, was im 20. Jahrhundert dann kam, diese Art von Mensch. Kraus hat das sofort gesehen. Und ein Selfie - wir sind also noch immer im Bann dieses Bildes.

STANDARD: Sie haben eine illustre Reihe österreichischer Schriftsteller übersetzt, viele Werke aus dem frühen 20. Jahrhundert. Was ist für Sie als Übersetzer der Blick auf diese Zeit, auf ihre Sprache?

Kovacsics: Bei jedem einzelnen Werk muss man versuchen, das Spezifische in der Zielsprache wiederzugeben. Es war etwas anderes, Die letzten Tage der Menschheit zu übersetzen als die Artikel aus der Fackel. Bei Hofmannsthal oder Altenberg gab es andere Herausforderungen. Und der Übersetzer selber hat auch seine Entwicklung. Die letzten Tage habe ich Ende der 80er-Jahre übersetzt, heute würde ich vielleicht anders verfahren. Obwohl die Übersetzung damals gelungen ist.

STANDARD: Wie viel Respekt ist beim Übersetzen wichtig?

Kovacsics: Ohne Respekt ist keine Übersetzung möglich. Aber natürlich kann man lockerer sein oder weniger locker. Ich kenne gute Übersetzer, die nach 20 Jahren ein Werk nochmal übersetzen, und zwar anders. Übersetzung ist zeitgebunden, man kann sie immer wieder ändern, sie hört nie auf.

STANDARD: Neuübersetzungen klassischer Texte bekommen viel Aufmerksamkeit. Braucht jede Generation ihre eigene Übersetzung?

Kovacsics: Wenn man lange übersetzt hat, weiß man, dass in 50 Jahren wieder jemand kommen wird, der die jetzt als endgültig betrachtete Übersetzung infrage stellt, weil die Zeit sich geändert hat. Das ist normal. Natürlich gibt es Fehler bei alten Übersetzungen, aber es sind Menschen mit ihnen aufgewachsen und haben auf diese Weise zum Beispiel Dostojewski kennengelernt. Und jetzt ist er auf eine neue Art da. In 50, 100 Jahren wird hoffentlich wieder eine neue Übersetzung kommen, das heißt, dass Dostojewski lebt. Jetzt werden Homer-Übersetzungen gemacht, die man in der U-Bahn lesen kann - Johann Heinrich Voss hatte das nicht vorgesehen. Man muss beim Übersetzen an die Ewigkeit denken - aber die Ewigkeit ist kurz. Das Ziel ist, ein sprachliches Kunstwerk zu schaffen - das ist das sogenannte Original, und das muss auch die Übersetzung sein.

STANDARD: Sie sind als Sohn ungarischer Eltern in Chile geboren, haben Jugend- und Studienjahre in Wien verbracht und leben nun seit Jahrzehnten in Spanien. Wie wichtig ist für Sie diese Sichtweise von außen?

Kovacsics: Das ist für mich absolut grundlegend. Ich kenne nichts anderes. Ich bin im Exil geboren. Meine Eltern waren Exilierte, ich ging mit 14 Jahren von Chile weg, aber ich hatte dort nicht Fuß gefasst. Nach weiteren 14 Jahren bin ich auch aus Österreich wieder weggegangen. In Spanien bin ich schon in einem Alter gewesen, wo die Vergangenheit aus mir einen Fremden gemacht hatte. Ich bleibe ein Exilierter, das merke ich auch an dem, was ich schreibe, denn ich schreibe eben nicht über spanische Zustände, sondern über österreichische, mitteleuropäische Themen. Diese Außenseiterposition hat auch ihre dunklen Seiten. Man lebt als Phantom - aber es hat sich so ergeben, und das wird auch so bleiben. (Isabella Pohl, Album, DER STANDARD, 4.4.2015)