Heile Welt. Eine Insel der Seligen und der Eigenständigkeit gegen ein böses neokapitalistisches Umfeld, in dem Umweltanliegen auf dem Altar des Profits geopfert werden - während die tapferen Österreicher ihr Umweltmusterland wacker gegen den bösen Einfluss aus Brüssel und Straßburg, oder wo das Böse sonst vermutet wird, verteidigen. So wollen die meisten Österreicher ihr Land sehen. So wollen Regierungspolitiker (aber auch einige Freiheitliche) das Land wahrgenommen haben. Und so stellen es tatsächlich einige Boulevardmedien dar.

Eigeneinschätzung, gewünschte Wahrnehmung und massenmediale Darstellung haben allerdings wenig mit der realen Situation zu tun. Sie sind vielmehr eine Folklore, die sich auf die Erfahrungen der 1980er-Jahre stützt: Damals gab es massive Umweltkonflikte in Österreich, sie betrafen die Kraftwerksprojekte Hainburg und Dorfertal genauso wie die zu massiven Waldschäden führenden Schwefelemissionen der Linzer Industrie und einer ganzen Reihe von Kraftwerken. Die damaligen Regierungen haben nach einigem Zögern tatsächlich die ärgsten Umweltbelastungen kräftig reduziert und ein wenig Bürgermitsprache bei Großprojekten eingeführt.

Geschicktes Marketing hat den Österreichern eingeredet, dass sie in einem Umweltmusterland lebten - und dieses Marketing war so erfolgreich, dass die Grünen zu Beginn der 1990er-Jahre vehement gegen einen EU-Beitritt aufgetreten sind, weil sie eine Verschlechterung der heimischen Umweltstandards befürchtet haben.

Diese Befürchtungen sind nicht eingetreten, im Gegenteil: Die Europäische Union hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein engagiertes Öko-Programm verfolgt und mit Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, Vogelschutzrichtlinie, Gewässerschutzrichtlinie und dem Natura-2000-Programm verbindliche Naturschutzstandards gesetzt.

Von einem Umweltmusterland kann man nicht mehr sprechen - da müsste sich nationale Umweltpolitik vom immer wieder beschworenen "internationalen Gleichklang" lösen und in dem einen oder anderen Bereich eine Vorreiterrolle übernehmen. Aber die damit verbundenen Konflikte mit der Wirtschaft, vielleicht auch mit anderen EU-Ländern, scheut die Regierung. Und die Bevölkerung muss schon froh sein, wenn die heimische Politik zwingendes EU-Umweltrecht auch umsetzt. Aber selbst das passiert erst nach strengen Ermahnungen. (Conrad Seidl, DER STANDARD, 3.4.2015)