"Heute gibt es ein höheres Bewusstsein für Autismus", sagt Psychiater Leonhard Schilbach.

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Leonhard Schilbach ist Psychiater und Neurowissenschafter in Deutschland und Gründer der neuen Forschungsgruppe "Soziale Neurowissenschaft" und der "Ambulanz für Störung der sozialen Interaktion" am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Er unterstützt Patienten, die etwa im Rahmen einer Depression, eines hochfunktionalen Autismus oder einer sozialen Phobie Probleme damit haben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Dabei erforscht er die Vorgänge im Gehirn während der Interaktion mit anderen Menschen.

derStandard.at: Was für eine Krankheit ist der Autismus?

Schilbach: Vor allem ist er eine Störung der sozialen Interaktion. Wie auch bei vielen psychiatrischen Erkrankungen verändert sich die Art und Weise, wie wir mit anderen in Kontakt treten. Autisten lassen sich rein von Fakten leiten, tun sich mit Empathie schwer, können Gefühle anderer kaum erkennen. Meist kommen noch repetitive Verhaltensweisen dazu, etwa ständiges Sortieren von Gegenständen. Anders als bei den Zwangsstörungen wird dieses Verhalten aber als positiv wahrgenommen.

derStandard.at: Wie viele Autisten gibt es in etwa?

Schilbach: Wir nehmen an, dass knapp ein Prozent der Bevölkerung an Autismus leidet, weltweit und quer durch alle Schichten. Das sind etwa gleich viele Autisten wie Schizophrene. Noch vor zehn Jahren hätte man diese annähernd gleiche Häufigkeit nicht für möglich gehalten. Schizophrenie wird nach wie vor stärker wahrgenommen, denn sie ist einer der häufigsten Gründe für einen stationären Aufenthalt auf der Psychiatrie. Autisten werden nicht so häufig aufgenommen, weil das Krankheitsbild sich deutlich weniger dramatisch darstellt – obwohl der Leidensdruck auch extrem hoch sein kann.

derStandard.at: Viele Patienten sind hochfunktional. Ab wann wird der Autismus denn zum Problem?

Schilbach: Sobald es Probleme im Zusammenleben gibt. Oft geht es jahrelang gut, man kommt durch Schule und Universität, doch spätestens im Arbeitsleben zeigen sich dann große Schwierigkeiten. Weil Autisten nonverbale Kommunikation nicht wahrnehmen, ergeben sich oft zwischenmenschliche Missverständnisse und Konflikte. Augenkontakt ist für sie nicht interessant, da würden sie allenfalls die Augenfarbe feststellen, die sie allerdings als für die Kommunikation irrelevant erachten. Sie meiden den Augenkontakt also, was ihr Gegenüber als Desinteresse oder sogar als Arroganz missverstehen kann. Es kommt zu negativen Rückmeldungen, aufgrund derer der Betroffene noch introvertierter werden kann. Das frustriert enorm.

derStandard.at: Welche Probleme ergeben sich im Zusammenleben?

Schilbach: Autisten können nicht unterscheiden, was man sagen soll und welche Dinge man lieber für sich behält. Sie verbalisieren alles, anstatt manches für sich zu behalten, wie es manchmal notwendig wäre. In einer Studie wurden Autisten Videoaufnahmen von Menschen vorgespielt, die eine nonverbale und eine verbale Aussage treffen. Sind die Aussagen widersprüchlich, schenken Autisten viel eher der verbalen Aussage Glauben, wohingegen es bei der gesunden Bevölkerung genau umgekehrt ist. Sie tun sich schwer mit Ironie, Metaphern und Redewendungen. Wenn die Müslischüssel auf den Boden fällt und jemand sagt "Das hast du ja toll gemacht!", nehmen sie das wörtlich und verstehen nicht, was denn an einem Missgeschick nun so toll sein soll.

derStandard.at: Weiß man heute schon mehr über die Entstehung?

Schilbach: Die Ursachen sind bis heute nicht geklärt, aber mit Sicherheit höchst komplex. Wir vermuten eine sehr starke genetische Komponente. Mittlerweile sind rund 20 Chromosomenabschnitte bekannt, die einen direkten Einfluss auf Autismus haben, aber es gibt wohl viele mehr. Aber auch die Umwelt spielt eine Rolle. Von Studien aus osteuropäischen Kinderheimen wissen wir, dass Kinder bei Vernachlässigung und Deprivation eher zu Autismus neigen. Und vor kurzem hat sich gezeigt, dass auch die Menge des Testosterons im Blut eine Rolle spielt.

Es gibt eine starke genetische Komponente, was sich auch daran zeigt, dass die Krankheit sehr früh im Leben zutage tritt. In spezialisierten Zentren kann man Autismus bereits bei Kleinkindern von zwei oder drei Jahren diagnostizieren. Auch Umweltfaktoren könnten eine Rolle spielen, etwa Virusinfektionen oder bestimmte Medikamente während der Schwangerschaft. Antiepileptika, insbesondere die Valproate, stehen unter diesem Verdacht. Aber auch ein veränderter Hormonspiegel im Mutterleib kann zu Autismus beitragen – vor allem stark erhöhtes Testosteron, das einen wichtigen Einfluss auf die Hirnreifung hat.

derStandard.at: Welche Rolle spielen Umweltgifte, welche Impfungen?

Schilbach: Meines Wissens keine. Die Wissenschaft konnte trotz intensiver Forschung keinen Nachweis für einen Zusammenhang finden.

derStandard.at: Welche Patienten kommen in Ihre Klinik?

Schilbach: Eine gar nicht so kleine Gruppe von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit nie die Diagnose Autismus bekamen, sondern erst viel später merken, dass sie sich schwertun mit anderen. Freilich ist dabei die Grenze zwischen extremer Schüchternheit und Autismus klar zu ziehen. So weisen ziemlich viele Menschen einzelne autistische Symptome auf, sind aber absolut gesund und haben keinerlei Probleme damit.

In der Erwachsenenpsychiatrie sind wir vor allem mit hochfunktionalem Autismus konfrontiert, also überdurchschnittlich intelligenten Menschen, die jahrelang ohne große Probleme zurechtgekommen sind. Sie wissen meist schon, dass sie anders sind als die anderen, kommen aber trotzdem klar. Obwohl sie bereits in der Pubertät gemerkt haben, dass sie anders sind als die anderen, hat alles lang funktioniert. Erst wenn sich die Probleme zuspitzen, geht man zum Arzt. Leider gibt es nach wie vor sehr wenige spezialisierte Zentren.

derStandard.at: Wie leicht oder schwer ist die Abgrenzung zu psychiatrischen Erkrankungen?

Schilbach: Die Differenzialdiagnose ist tatsächlich mitunter schwierig, denn auch Menschen mit Angst- oder Persönlichkeitsstörungen haben oft massive Probleme im Zusammenleben. Anders als etwa Menschen mit sozialer Phobie fürchtet sich der Autist aber nicht vor der Beurteilung anderer, sondern ist im Gegenteil gar nicht interessiert daran. Erschwerend zur Grunderkrankung kommt bei vielen Autisten eine psychiatrische Komorbidität dazu. So leiden etwa zwei Drittel der hochfunktionalen Autisten unter einer klinisch manifesten Depression – deshalb, weil sie bei vollem Bewusstsein ihre Probleme mitbekommen.

derStandard.at: Wie steht es um die Therapie?

Schilbach: Bis heute gibt es keine kausal wirksame medikamentöse Therapie, sondern man behandelt lediglich symptomatisch, also etwa mittels Antidepressiva gegen Depression oder Antileptika gegen krankhaft erhöhte Reizbarkeit. Derzeit laufen Versuche mit dem "Kuschelhormon" Oxytocin, das die Empathie verstärken könnte. Aber auch das Neuroleptikum Risperidon scheint hilfreich zu sein. Hier läuft noch die Forschung. Wichtig ist jedenfalls die Psychoedukation, die Autisten hilft, bestimmte Gesichtsausdrücke zu deuten. Auch Gruppentherapien und Selbsthilfegruppen sind sehr hilfreich, weil Autisten untereinander ganz anders kommunizieren können.

derStandard.at: Wie kann man sich die Psychotherapie für Autisten vorstellen?

Schilbach: Es handelt sich um eine Form der Verhaltenstherapie, in der soziale Kompetenzen erlernt werden: Wie gehe ich mit bestimmten Situationen um? Wie kann ich Stresssituationen erkennen und damit umgehen? Wie äußere ich Wünsche oder Kritik, ohne dass man das als sozial inadäquat erlebt? All das kann helfen. Erfreulicherweise gibt es heute auch Bestrebungen, Psychotherapie für Autisten im Erwachsenenalter einzuführen.

derStandard.at: Hollywood-Filme wie "Rain Man" und "Mercury Puzzle" haben das Image befördert, dass Autisten in bestimmten Bereichen außerordentlich gut sind. Wie häufig sind diese Inselbegabungen?

Schilbach: Die meisten Autisten sind dort erfolgreich, wo es um kopflastiges Denken, um hohe Konzentration geht. Extreme Begabungen sind aber überaus selten. In meiner gesamten Laufbahn ist mir nur ein Patient untergekommen, der tatsächlich über außerordentliche Fähigkeiten verfügt: Er hatte ein fotografisches geografisches Gedächtnis, konnte jede Einzelheit von jedem Ort beschreiben. Das ist aber die absolute Ausnahme.

derStandard.at: Die Zahl der Diagnosen ist im Steigen begriffen, heißt es. Warum?

Schilbach: Der Anstieg hat sicher mit dem höheren Bewusstsein für Autismus zu tun. Aber wir verzeichnen ja auch insgesamt eine gestiegene Häufigkeit von psychischen Erkrankungen. Entweder wir leben heutzutage in einer Welt, die einen dazu neigen lässt, psychisch krank zu werden, oder die Bevölkerung ist diesem Thema gegenüber einfach sensibler geworden. Letzteres ist sicher der Fall.

derStandard.at: Was wünschen Sie sich anlässlich des Weltautismustags?

Schilbach: Schön wäre, wenn wir alle unsere Vorurteile abbauen und ein größeres Maß an Toleranz haben gegenüber den Besonderheiten, die eine autistische Person an den Tag legt. Wenn wir also nicht sofort irritiert wirken, sondern uns ein Stück weit darauf einstellen. Auch sollten wir Autismus nicht immer nur als Krankheit betrachten, sondern auch schauen, welche Stärken daraus erwachsen können. Die Fähigkeit, sich stark zu konzentrieren und bestimmte soziale Reize nicht wahrzunehmen, kann in manchen Bereichen ein großer Vorteil sein. Darum geht es ja immer im Leben: eine eigene ökologische Nische zu finden, in der man mit seinen Fähigkeiten und Talenten gut aufgehoben ist und sich wohlfühlt. Das gilt auch und besonders für Autisten. (Florian Bayer, derStandard.at, 2.4.2015)