"Wir kriegen linke Argumente leicht über die Lippen, aber wenn es zum Schwur kommt, dann ist es nicht so einfach, tatsächlich universalistisch zu leben", sagt der Münchner Soziologe Armin Nassehi.

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STANDARD: In Ihrem neuen Buch erklären Sie, "warum rechts und links keine Alternativen mehr sind". Ist denn alles gleich gültiges und damit gleichgültiges Einerlei?

Nassehi: Keine Alternativen heißt nicht, dass es keinen Unterschied zwischen den beiden gibt. Der ist riesengroß, aber so eindeutig dann eben auch nicht. Wir kennen in öffentlichen Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft fast immer nur Chiffrierungen, die wir in rechts und links oder konservativ und eher progressiv einordnen. Aber heute sehen wir mit diesen Unterscheidungen nicht das, was eigentlich die Struktur einer Gesellschaft ausmacht.

STANDARD: Wie definieren Sie denn rechts und links?

Nassehi: Ich versuche das an den Denkungsarten festzumachen, nicht an der politischen Farbenlehre. Unter einem linken Argument würde man immer verstehen, dass es universalistisch ist. Das heißt, ich möchte eigentlich keinen Unterschied zwischen den Menschen machen. Es läuft meist auf die Idee hinaus, dass man eine Umbauperspektive auf die Gesellschaft hat und einen Hebel sieht, an dem man die Dinge ändern kann. Klassisch wäre das die Differenz von Kapital und Arbeit. Rechtes Denken ist viel einfacher zu beschreiben. Es beurteilt die Gesellschaft dahingehend, die Eigenen und die Fremden, uns und die Anderen zu unterscheiden, und die Fantasie wäre, dass eine kulturell und ethnisch homogenere Gesellschaft weniger oder gar keine Probleme hätte.

STANDARD: Warum reichen die Begriffe rechts und links nicht mehr, um Gesellschaften zu beschreiben?

Nassehi: Beide unterschätzen die Komplexität der modernen Gesellschaft. Eine linke Perspektive tut so, als könne man eine Gesellschaft wie ein Objekt behandeln, das man verändern kann, weil man Einsicht in deren Gesetzmäßigkeiten hat. Linke Theoretiker wundern sich immer darüber, dass zum Beispiel das sogenannte Proletariat, das es in der Form gar nicht mehr gibt, keine Einsicht in seine eigene objektive Lage hat. Deshalb werden wirklich linke Perspektiven bisweilen autoritär, weil sie ja zu wissen meinen, was der richtige Gedanke ist, den es durchzusetzen gilt. Eine rechte Perspektive ist auch unterkomplex, insofern, als die entscheidenden Differenzen, die die Gesellschaft ausmachen, eben nicht die zwischen kulturellen oder ethnischen Zugehörigkeiten sind.

STANDARD: Von wegen keine Links-rechts-Alternative - in Europa soeben zu sehen: die "linken" Griechen, ihr "Linkspremier" Tsipras und die anderen, wie immer man die nennt. Da werden doch alternative Wirtschafts- und Politikprogramme in Stellung gebracht?

Nassehi: Die Idee der linken Regierung in Griechenland ist, jetzt eine Umbauperspektive zu haben. Was soll man in einer Situation wie in Griechenland im Moment auch anderes denken? Interessant ist ja, dass die normale Mitte-Politik weder rechts noch links ist, sondern mehr so eine Muddling-through-Politik, ein Sich-Durchwursteln. Gleichzeitig beobachten wir in Europa Protestwahlformen von rechts, denken wir an Frankreich und Front National, Dänemark, Finnland, Ukip in Großbritannien, oder womöglich auch an die FPÖ in Österreich. Es gibt also diese Umbauperspektive als Gegenidee zu Europa, aber auch die Perspektive der ethnischen Homogenität. An Europa kann man sehr schön sehen, wie vernetzt und komplex die Probleme sind. Die kann man weder mal eben so durch rechte, ethnische Homogenität oder einen linken Umbau, bei dem der Staat letztlich die Gesellschaft steuert, lösen.

STANDARD: Sie hegen überhaupt die Vermutung, dass rechte Beschreibungen derzeit besondere Konjunktur haben. Warum? Meinen Sie damit Phänomene wie Pegida?

Nassehi: Rechte Beschreibungen bieten sehr einfache Beschreibungen für sehr komplexe Phänomene. Ich unterscheide dazu digitale und analoge Welten. Wenn Sie sich heute überlegen, wer Ihr unmittelbarer Konkurrent ist, wenn es Ihnen schlechtgeht, dann kommen Sozialwissenschafter und erklären Ihnen, dass es statistische Gruppen sind, die man gar nicht so genau identifizieren kann, die Sie daran hindern, einen richtigen Job zu bekommen oder auf dem Heirats- oder Wohnungsmarkt erfolgreich zu sein. Während rechte Beschreibungen dann doch sehr genau identifizieren, und zwar analoge Gruppen: Es sind Einwanderer, Leute des falschen Glaubens oder mit dunklerer Hautfarbe, Leute, die hier eigentlich nicht hingehören. Interessant an Pegida ist, dass das ein Diskurs ist, der in Krisensituationen in der Öffentlichkeit doch sehr stark funktioniert. Das sind Verunsicherungsphänomene. Sie zeigen, dass wir in analogen Welten leben, aber verstehen kann man diese Welten nur digital.

STANDARD: Angesichts der "digitalen Sozialisierung", die Sie beschreiben, und zunehmend "unsichtbarer", weil digitalisierter, konkurrierender Gruppen - was heißt das für politisches Handeln?

Nassehi: Politik hat heute die große Schwierigkeit, ansprechbare Kollektive zu produzieren und zumindest so zu tun, als könne sie Probleme lösen. Und was tut sie? Muddling through. Durchwursteln. Das sehen die Leute natürlich. Außerdem kann man im politischen System keine richtigen Alternativen beobachten. Eine große Koalition wie in Deutschland, aber auch in Österreich, ist ja geradezu ein ästhetisches Bild dafür, dass die Alternativen eigentlich nur darin bestehen, wie man über den nächsten Tag kommt. Das Dilemma von Politik besteht darin, dass sie im Moment keine Beschreibungen anfertigen kann, die die Leute toll finden.

STANDARD: Sie behaupten im Buch, dass wir "links reden und rechts leben" . Da fühlen sich sicher viele Leserinnen und Leser auf den Schlips getreten. Das müssen Sie erklären.

Nassehi: Die linksliberale Mittelschicht ist sehr geübt darin zu sagen, dass sie zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Nationalität, Schicht und Milieu keine Unterschiede macht. Die Lebenspraxis aber macht diese Unterschiede sehr stark. Wir können beobachten, dass gerade in diesen Milieus sehr darauf geachtet wird, Schulen mit möglichst geringem Migrationsanteil zu wählen, nicht in Wohnvierteln mit sozialen Brennpunkten zu wohnen, Distinktionsgewinn zu machen. Wir reden universalistisch links, leben und verhalten uns dann aber partikularistisch rechts. Das heißt nicht, dass diese Menschen eine rechte Orientierung haben. Aber, und das ist ein Argument von vielen Rechtsintellektuellen, das ist der Stachel im Fleisch unseres leichten Redens. Wir kriegen linke Argumente unglaublich leicht über die Lippen, aber wenn es tatsächlich zum Schwur kommt, dann ist es nicht so einfach, tatsächlich universalistisch zu leben. Das ist eine gewisse Lebenslüge dieses Milieus.

STANDARD: Sie schreiben: "Das Verhältnis von Politik und Ökonomie ist die Schlüsseldifferenz, an der sich Diagnosen der Gesellschaft scharf stellen." Was bedeutet das?

Nassehi: Der Staat und das Recht verheißen Gleichheit. Das ist ein großer Gleichheitsgenerator. Die Ökonomie ist ein Ungleichheitsgenerator. Ein modernes Wirtschaftssystem produziert permanent Ungleichheiten, es kann aus sich heraus keine Verteilungsgerechtigkeit produzieren. Deshalb hat Politik, seit es die soziale Frage gibt, seit Mitte des 19. Jahrhunderts, immer versucht, in die Ökonomie hineinzusteuern. Ein eher linkes Modell würde sagen, wir müssen die Wirtschaft stark regulieren, ein eher konservatives Modell würde sagen, das lässt sich nicht so einfach machen, ein eher liberales Modell würde sagen, die Wirtschaft macht das schon selber und hat Selbstheilungskräfte, die berühmte unsichtbare Hand. Zwischen diesen Logiken muss man vermitteln. Das ist der Grundkonflikt der Moderne. Es geht fast überall um die politische Regulierung von Distributionsproblemen.

STANDARD: Ihr Buch trägt den Titel: "Die letzte Stunde der Wahrheit" und richtet sich gegen "die Gralshüter der Wahrheit und Moral". Warum hat denn die letzte Stunde der Wahrheit geschlagen?

Nassehi: Dieser etwas provokative Titel meint: Leute, glaubt nicht diesen zu einfachen Wahrheiten! Von wegen, man muss nur deregulieren, dann wird das schon. Oder man muss nur ethnisch oder kulturell homogener werden oder den Grundwiderspruch der Gesellschaft aufheben, dann wird das alles schon. So einfach geht das nicht. Die letzte Stunde der Wahrheit ist die erste Stunde, in der man sich mit den unterschiedlichen Logiken der Gesellschaft und ihren komplexen Wechselwirkungen beschäftigt. Komplexität heißt eben auch: Es gibt diese eine letzte Perspektive nicht. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 18.4.2015)