Als die Geschichte spielt, war Stirling Moss erst ein paar Monate bei Mercedes. Was ist als erste Erinnerung an das legendäre Team übrig geblieben, nach sechzig Jahren?

"Der Mechaniker trug eine Schüssel herbei, eine Schüssel mit heißem Wasser, er hatte auch Seife und Handtuch. Das war für mich, ganz speziell für den jungen Stirling! Um den Ruß abzuwaschen, den der Fahrtwind vom Staub der innenliegenden Bremsen auf mein Gesicht geweht hatte. Es war meine erste Testfahrt für Mercedes, und es war so eindrucksvoll, dass ich es niemals vergessen könnte: ein Mechaniker mit heißem Wasser."

Stirling Moss war 24, als er erkoren wurde. Mit einem leichteren Wort darf man sich den Vorgang nicht vorstellen, wenn der legendäre Rennleiter Alfred Neubauer eine "dringdrahtliche Nachricht" (also ein Eiltelegramm, den Urgroßvater des Faxes) nach London schickte.

Moss liebte dieses Team, in dem die deutsche Ordnung ihre angenehmen Auswirkungen zeigte: "Es war einfach toll, die 20 Dollar Tagesspesen jeweils in der richtigen Währung zu kriegen, dazu das genaue Geld für Fähre oder Maut und jeden Tag einen Dollar extra, um das Auto waschen zu lassen, mit dem man zur Rennstrecke fuhr. Wirklich jeden Tag ein Dollar, denn ein Mercedes-Werksfahrer sollte nur in einem gewaschenen Auto gesehen werden. Ich steckte den Dollar ein und wusch das Auto selber, so hatte ich die doppelte Freude."

Der Mercedes 300 SLR hatte knapp 300 PS und war auf Spitze 270 ausgelegt, ähnlich war es bei den Topautos von Ferrari, Maserati und Aston Martin.
foto: daimler

1955, zwei Jahre vor ihrem abrupten und keineswegs vorhersehbaren Ende (Unfall mit zwölf Toten) war die Mille Miglia auf einem unglaublichen Höhepunkt ihrer Popularität. So sehr Tollkühnheit und Vollgas-Artistik gefordert wurden, so brauchte man doch immense Erfahrung und Kenntnis, um die Tücken dieser 1600 Kilometer zu bewältigen. Dass dies einem jungen englischen Kerl besser gelingen könnte als den italienischen Platzhirschen (Maglioli!, Castellotti!!, Taruffi!!!) oder dem argentinischen Superstar Juan Manuel Fangio auf der Höhe seines Ruhms, war absolut sagenhaft, imponierte den Italienern, entzückte die Welt und machte die Briten trunken.

Überdies: Die Welt erfuhr, nach und nach, dass am Anfang dieses Sieges ein neuer kühner Gedanken gestanden war. Zwei Männer hatten eine Partnerschaft geschlossen, die ungefähr unter dem Titel stand: Mein Leben ist dein Leben.

Zwischenruf des Schreibers: Moss ist heute 85, nicht mehr sehr gut zu Fuß, aber unverändert witzig, schlagfertig, sprühend, er hat absolut jedes Detail von damals parat.

Noch farbenprächtiger allerdings konnte sein Beifahrer Denis Jenkinson über das Jahrhundertrennen erzählen. Er starb 1997, mit 77 Jahren.

Man darf sagen, dass Jenkinson den Rennsport WAHRHAFTIG liebte: In seinem Nachlass fand sich, unter tausend Memorabilia, ein Apothekerfläschchen mit quasi Lakritze: Der Knabe war in Donington unter Nuvolaris Grand-Prix-Wagen gekrochen und hatte die Ölkrusten abgeschabt, er besaß fortan den Duft fürs Leben und blieb zölibatär.

Eine Art von Salatschüssel als Kopfschutz, keine Gurten, kein Überrollbügel: Man durfte vor dem Start sicher nicht ins Grübeln kommen.
foto: daimler

Niemand würde Denis Jenkinson mit seinem Vornamen anreden. Er war immer nur Jenks. Aus einer Aufzeichnung von einem Besuch bei Jenks 1994 in Hampshire, mit vielen Zwischenfragen an Stirling Moss (später, an anderen Orten):

Jenks ist von handlicher Statur, was sicherlich hilfreich war, als er sich für den Seitenwagen-Motorradrennsport interessierte, als "sidecar passenger". Er wurde mit Eric Oliver auf Norton Weltmeister 1949 und hatte fünf volle Rennjahre in ganz Europa. In dieser Zeit wurde er auch Motorsport-Journalist, später der berühmteste von allen, Denkmal seines Berufsstands: Der Mann, der mit Stirling Moss die Mille Miglia gewann.

Etwas Tiefergehendes, viel intensiver, radikaler

Moss und Jenks stimmten von Anfang an überein: Die Sache war für junge Engländer nur dann sinnvoll, wenn man ein Mittel fand, die Ortskenntnis und Erfahrung der Italiener zu kompensieren.

Nun existierte der Begriff des "Gebetbuchs" bereits, jedenfalls im Sinn von Gefahrenhinweisen. Moss und Jenks stellten sich aber etwas Tiefergehendes vor, viel intensiver, radikaler.

Gut gebräunt am Ende des Tages. Moss und Jenkinson werden von Rennleiter Alfred Neubauer umfasst, links Ingenieur Uhlenhaut, Mastermind des Mercedes-Motorsports nach dem Krieg.
foto: daimler

Das Training ging über viele Wochen, immer unterbrochen durch Stirlings Renn-Weekends irgendwo in Europa. Man darf sich das eher als Albtraum vorstellen: Jede Mille-Miglia-Runde bedeutete 1600 km im vollen italienischen Verkehr, so schnell wie möglich, teilweise mit normalen Autos, dann aber auch mit gutgehenden SL oder SLR, bis zu Tempo 250.

Jenks machte Aufzeichnungen, Moss ließ sie in seinem Büro abtippen und zu einer sauberen Mappe verarbeiten. Es war aber sinnlos, das Zeug konnte nur leben mit Jenks' Skizzen und Zeichen und Symbolen, seiner ganz eigenen Sprache, die sonst kein Mensch lesen oder verstehen konnte. Also übertrug er selbst die Aufzeichnungen, viele Stunden auf den Knien, vor sich eine endlose Rolle Papier.

Stille im Moment höchster Gefahr

Mercedes baute im Trainingsauto eine Bordsprechanlage ein, und Jenks begann vorzulesen. Die Sache funktionierte, bis Moss immer schneller und schneller fuhr und plötzlich taub war. Er hörte die Ansage nicht mehr, und dies gerade in einem Moment höchster Gefahr.

Ein Arzt, der Raumfahrtests mit Piloten machte, hatte Ähnliches erlebt: Der Mensch hat im äußersten Überlebenskampf die Gabe, seine momentan wichtigste Fähigkeit auf Kosten der anderen Sinne zu erweitern. Du kannst rennen jenseits deiner Kräfte, ohne was zu spüren, und wenn dein Leben von deinen Augen abhängt, wird deine Sicht geschärft bis zu jenem Extrem, dass dich das Gehör verlässt.

Fünfeinhalb Meter Länge

Also schmiss man den Bordfunk raus und übersetzte die Aufzeichnungen auf Handsignale. Aus etwa 15 Handzeichen setzte Jenks eine Sprache zusammen, die Moss in jeder Lage sofort aufnehmen und umsetzen konnte. Moss hatte unglaublich gute Augen, und er konnte in der Tiefe wie in der Breite fantastisch sehen, und Jenks würde seine Signale genau in den richtigen Teil des Blickfelds setzen, ohne sich deswegen großartig verrenken zu müssen.In der Endfassung ergaben die Aufzeichnungen eine Papierrolle von fünfeinhalb Meter Länge, die sich in einem eigens dafür konstruierten Aluminiumkästchen unterbringen und durch einen Rollenmechanismus abwickeln ließ. Das Fensterchen war aus Perspex, versiegelt mit Sellotape, für den Fall von Regen, so viel Genauigkeit muss sein.

Zwanzig Jahre danach: Denis Jenkinson (in seinem BMW 328) zeigt uns die originale Box mit dem Abrollmechanismus für die Kurvenansage. 1600 km wurden auf fünfeinhalb Meter verdichtet.
Foto: völker

Das war aber erst die Hälfte der Aktion. Das offene Feld für Vernunft und Emotion: Wie weit sollte man im gegenseitigen Vertrauen gehen? Es war ja nicht irgendein Rennen oder irgendeine Rallye, wo du dir bei einem Unfall auch sehr weh tun kannst, sondern es war einfach das gefährlichste Straßenrennen aller Zeiten, durch Städte und Dörfer und Zuschauermassen, über blinde Kuppen, über die ein SLR bei ausgedrehten 7500/min mit Tempo 280 fliegen würde, falls der Mann am Gaspedal die Unerschütterlichkeit des Glaubens hatte: Wenn Jenks VOLL sagt, dann ist es VOLL.

Moss: "Er hatte natürlich Nerven wie Drahtseile, das war hilfreich. Und er war furchtlos bis zur Selbstaufgabe."

"Bis zur Selbstaufgabe, Jenks?"

"Neben einem Mann wie Moss, ja. Neben irgendeinem Fahrer, nein. Ich bin kein Fatalist. Auf dem Flugzeugforschungs-Stützpunkt, auf dem ich im Krieg arbeitete, hatte ich jahrelang die Bombenangriffe erlebt. Das war gefährlich. Danach waren Friedenszeiten, Mensch, wir hatten Frieden in ganz Europa, es gab keine Gefahr mehr."

"Konnte man damals, 1955, nicht schon absehen, dass die ganze Mille Miglia viel zu gefährlich war, und dass eine Katastrophe, wie sie zwei Jahre später tatsächlich passierte, eigentlich programmiert war?"

Denis Jenkinson: "Ein Rennen war ein Rennen, und die einzige Gefahr, die man in Betracht zog, war, das Rennen zu verlieren. Ich kam aus der verrücktesten Liga des Motorsports. Nach fünf Jahren Motorradgespannfahren denkst du nicht mehr über die Gefährlichkeit des Rennfahrens nach. Ich meine, ich hatte Strecken wie Barcelona-Montjuich erlebt, wo es nur lebende Absperrungen gab, das heißt, die Zuschauer begrenzten die Rennstrecke. Und wenn ich mich in der Kurve rausstemmte vom Beiwagen, dann bewegte sich mein Kopf entlang der Schuhe der Zuschauer.

Jede Runde sah ich dieselben Schuhe, wenn nicht gerade jemand Platz getauscht hatte. Dass dies gefährlich sein sollte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn, es war einfach normal. Und wenn ich lang Zeit hatte zum Nachdenken, sagen wir fünf Sekunden auf der Geraden, dann war ich bloß glücklich, denn ich bin neben dem Motor gekauert und habe ihn singen hören, aah, my baby sings beautifully, und ich war stolz drauf, denn ich war ja auch Mechaniker und hatte die Maschine vorbereitet. Es gab nur das Glück, Rennfahren zu dürfen, und das war alles."

"Das heißt, es gab auch nicht die Angst des Beifahrers, der Stirling Moss mit Tempo 280 über eine blinde Kuppe schickt?"

"Vielleicht kann sich kein Mensch mehr vorstellen, was das bedeutete: Stirling Moss, 25 Jahre alt, voll motiviert, am Steuer des 300 SLR, der wunderbarsten Maschine unter den Sportwagen. Moss war unglaublich, hatte Fähigkeiten jenseits des Vorstellbaren, es war Kunst in höchster Vollendung. Es hing also alles nur davon ab, dass ich keinen Fehler machte. Und ich war ganz finster entschlossen, keinen zu tun.

Nicht im Bild, nur zu erahnen: ein aus zwei Vierzylindern zusammengefügter Reihen-Achtzylinder.
foto: daimler

Für trickreiche Kurven hatten wir drei Grade und die entsprechenden Handzeichen: saucy, dodgy und very dangerous. Unser nächster Schritt war das Ausräumen des letzten Zweifels am 100-Prozent-Fahren an der jeweiligen Stelle. Auf diese Art würden wir an einer Stelle, sagen wir, drei Sekunden gewinnen, und dort wieder drei Sekunden und so weiter.

Typisch für unsere Einstellung war das Glücksgefühl am Start. Es lief ab wie bei einem wissenschaftlichen Experiment, wie bei einer Raumfahrt: Da haben sich zwei Menschen im totalen Vertrauen aufeinander auf eine Aufgabe vorbereitet, für die sie alle Unterstützung der Welt hatten, all the backing of the world, in unserem Fall die tolle Hilfe der ganzen Mercedes-Maschinerie mit ihrer perfekten Vorbereitung. Aber dann kommt der Moment, wo diese Unterstützung endet und die beiden nur noch für sich allein sind. Sie werden in den Weltraum hinausgeschossen."

Taruffi, Castellotti, Marzotto

Es gab 521 Starter, die ab den Abendstunden des 1. Mai in Brescia minutenweise abgelassen wurden. Startzeit für Moss/Jenkinson war der Morgen des 2. Mai im Umfeld der stärksten Fahrzeugkategorie, um 7.22 Uhr, somit auch Startnummer 722.

Es gab drei weitere Mercedes-Nennungen: Fangio als absoluten Favoriten sowie Kling und Herrmann. Die gefährlichsten Gegner des deutschen Werkteams waren Taruffi, Castellotti und Marzotto auf Ferrari, Perdisa im Maserati und Peter Collins auf Aston Martin. Der Mercedes 300 SLR hatte 290 PS und war auf eine Spitze von 272 km/h bei 7500/min im fünften Gang ausgelegt. Die Strecke war 1606 km lang, Brescia-Pescara- Rom-Florenz-Bologna-Brescia.

Enge Nummer für die Nummer 722. Eine Impression, die sich am Ende des Rennens zum Bild eines schönen Triumphs weitete.
foto: daimler

Der Artikel, den Denis Jenkinson dann in der englischen Zeitschrift Motor Sport veröffentlichte, zählt zu den Klassikern der Motorsportliteratur. Abgesehen vom substanziellen Wert des Inhalts, eh klar, zeichnet sich der Text durch Natürlichkeit, Geradlinigkeit und, sagen wir ruhig: Demut des Schreibers aus, so unendlich weit weg von der Sensationsschreierei unserer Tage. Ein kleiner Auszug:

Auf der kurvenreichen Straße von Siena nach Florenz begann ich, die körperliche Belastung zu spüren. Da ich ja kein Lenkrad hatte, das mir das Gefühl geben könnte, wie sich das Auto bewegen würde, war mein Körper ununterbrochen den grässlichsten wechselnden Fliehkräften ausgeliefert. Hitze, Dämpfe und Lärm wurden fast unerträglich, aber ich führte mir neue Energie zu, indem ich Stirling Moss ansah, wie er neben mir saß, völlig entspannt am Lenkrad arbeitend, als ob er gerade Brescia verlassen hätte, dabei hatten wir schon gut tausend Kilometer unter der glühenden Sonne hinter uns. Vor uns lagen ein paar der interessantesten Passagen, die wir hart trainiert hatten.

Geschüttelt und gehämmert

Die Vorfreude darauf, Moss auf diesen Stücken, die nun endlich für den Verkehr gesperrt waren, richtig auf Angriff zu erleben, hob mich über alle körperlichen Unbequemlichkeiten hinweg. Ich wurde allerdings daran erinnert, als wir uns einer Kurve näherten und einige Frauen aufsprangen und flohen, mit Ausdrücken von Horror im Gesicht, denn der wundgeschlagene Mercedes, dreckig und ölverschmiert und mit dem Getöse eines Grand-Prix-Wagens, mit zwei verschwitzten, verdreckten, ölverschmierten Figuren hinter der Scheibe, nun im vollen Drift über alle vier Räder durch die Kurve schmierend, muss für friedvolle Anwohner ein schreckenerregender Anblick gewesen sein. Die Anfahrt auf Florenz brach uns fast das Kreuz, als wir über die schlechten Straßen geschüttelt und gehämmert wurden und über die Tramschienen flogen.

Runter ging es, einen steilen Hügel im zweiten Gang, und bei Höchstdrehzahl in den dritten, und ich dachte, es braucht einen tapferen Mann, fast 300 PS an diesem steilen Abhang freizulassen und dann noch in den höheren Gang zu schalten. Mit Geschwindigkeiten bis 200 km/h fuhren wir durch die Straßen von Florenz, über die große Brücke, breitseits über einen Platz, über weitere Tramschienen drüber ... Jetzt hatte Moss wirklich das Messer zwischen den Zähnen, und ich spürte, dass da nichts mehr war, was ihn vom Sieg abhalten konnte; er hatte einen ganz eigentümlichen Ausdruck von Konzentration auf dem Gesicht ...

So weit ein kleiner Teil aus Denis Jenkinsons klassischer Story. Der Mille-Miglia-Rekord von 1955 steht heute noch.

Da war dann noch die Sache mit Fangios Pillen.

Der berühmte väterliche argentinische Teamkollege hatte Moss und Jenkinson Pillen gegeben, für extra Stamina und Durchhalten. Später erzählte Fangio, es habe sich um ganz natürliches Zeug gehandelt, vielleicht aus der Indianertradition, das Wichtigste sei der Glaube an die Pillen, und dass man jede Müdigkeit überwinden werde. Wie auch immer: Moss (ebenso wie Fangio) hatte die Pillen genommen, Jenkinson nicht.

Am Abend nach dem Rennen gab es Feiern beim Mercedes-Team und beim Grafen Maggi. Jenks ging danach schlafen, Moss setzte sich um zwei Uhr nachts in den zivilen Mercedes, den ihm das Werk für die Anreise geborgt hatte. Er war zum Frühstück bei Daimler in Stuttgart. (Herbert Völker, DER STANDARD Rondomobil, 11.4.2015)