Früher kam Peter Norvig die Informatik wie eine "Geheimwissenschaft" vor. Computer zu berühren war damals etwas Besonderes.

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STANDARD: Viele denken bei Google wohl eher an die Suchmaschine oder ein Betriebssystem anstatt an Wissenschaft. Was machen Sie dort als Forschungschef eigentlich?

Peter Norvig: Ich beaufsichtige eine Vielzahl von Projekten und versuche, die Forschung mit den Produkten zu verbinden. Die Frage ist jedes Mal, ob eine neue Entwicklung einen sinnvollen Zweck erfüllt oder bloß ein Spielzeug ist. Es geht uns bei Google immer darum, ein neues Produkt zu schaffen oder ein existierendes zu verbessern. In manchen anderen Unternehmen haben die Forscher als konzeptionelle Zulieferer mit der Konstruktion nichts mehr zu tun. Bei uns aber sind die Wissenschafter bis zum Schluss Teil eines Gesamtprozesses.

STANDARD: Also ist Ihre Forschung reine Produktentwicklung?

Norvig: Nein, einige Dinge, die wir getan haben, fingen als bloße theoretische Ideen an, von denen wir zu Beginn nicht gedacht haben, dass wir sie umsetzen können wie die Spracherkennung oder maschinelle Übersetzung. Aber als andere das doch geschafft haben, waren wir der Meinung, dass wir das besser machen und auf eine Weise schaffen können, wie es sie vorher noch nicht gab.

STANDARD: Im Software-Bereich beschäftigen Sie sich vor allem mit künstlicher Intelligenz.

Norvig: Genau. Die Welt um uns und die Menschen in ihr zu verstehen, bedeutet, Bilder, Geräusche und vor allem Sprache zu begreifen. Am Beginn war für Google Sprache ein Wort, das man in die Suchmaschine eingab. Wir haben von Kommunikation genug verstanden, um mit Ergebnissen zu antworten, aber nicht, um eine Unterhaltung zu führen. Früher haben Sie uns erzählt, was sie interessiert, wir lieferten Material. In Zukunft will Google aber mehr Gesprächspartner anstatt ein Bibliothekar sein.

STANDARD: Und wie lehrt man Computer, sich mit uns zu unterhalten?

Norvig: Es geht darum, die chaotische Welt unserer Wahrnehmung mit dem logischen Verständnis der Programmiersprachen zu verbinden. Schach konnten wir den Computern schnell beibringen: Die Regeln sind hier klar definiert. Die reale Welt ist aber nun einmal nicht so, dass sich aus einer Aktion eine klare Abfolge ergibt. Für Computer ist es erheblich schwieriger, damit umzugehen. Inzwischen haben wir aber einige Techniken entwickelt, die ihnen dabei helfen.

STANDARD: Wie sieht dieser Unterricht konkret aus?

Norvig: Computer können zwar übermenschliche Rechenleistungen vollziehen, haben aber Schwierigkeiten mit simpler Wahrnehmung. Das können wir Menschen besser. Aktuell arbeiten wir an einem Bilderkennungssystem mit dem Ziel, dem Programm Bilder zu zeigen, die es vorher noch nicht gesehen hat, und dennoch die richtige Beschreibung liefert. Das ist so interessant, weil es viele Dinge auf einmal verbindet: Das System muss das Bild betrachten und seine Elemente ermitteln. Auch muss es herausfinden, welche Teile relevant sind, und das korrekt in Sprache übersetzen. Manchmal funktioniert das schon wunderbar, manchmal versagt das System erbärmlich, weil sich hinter dem Sichtbaren häufig mehr verbirgt. Den hüftenschwingenden Elvis Presley hielt unser Programm schlichtweg für einen Mann auf einem Skateboard.

STANDARD: Sie machen offenbar schnelle Fortschritte. Haben Sie manchmal Bedenken, den Maschinen zu viel beizubringen?

Norvig: Natürlich gibt es in diesem Bereich moralische Fragen. Denken Sie zum Beispiel an die militärische Nutzung von ferngesteuerten Drohnen. Manche Leute sind zudem besorgt, dass Roboter die Weltherrschaft übernehmen. Dieses Szenario bringt mich aber nicht um den Schlaf: Die Maschinen haben doch in vielen Bereichen schon längst die Herrschaft übernommen. Schauen sie, welchen Einfluss das Automobil inzwischen auf unsere Städte hat. Wir dulden das, weil dabei für uns die Vorteile überwiegen.

STANDARD: Bei Google sind viele User vor allem um ihre Privatsphäre besorgt - zu Recht?

Norvig: So wie es jetzt läuft, ist es nicht ganz richtig. Wir wollen in Zukunft unseren Usern mehr Kontrolle geben, was sie teilen wollen. Heute ist alles sehr verwirrend. Ich bin zwar Experte in diesem Feld, aber wenn ich eine neue App herunterlade, lese ich mir wie jeder andere die Nutzungsbestimmungen nicht durch, sondern klicke einfach "Okay". Wir Unternehmen stellen wichtige Fragen, die die Privatsphäre betreffen, auf die falsche Weise. So wissen die Leute nicht, wie sie antworten sollen. Das müssen wir besser lösen. Wir sollten die Programme so verändern, dass sie darum konkurrieren, uns zu helfen, anstatt bloß unsere Aufmerksamkeit zu bekommen.

STANDARD: Dennoch lassen Unternehmen den Profit nicht aus den Augen. Schränkt das die wissenschaftliche Arbeit nicht ein?

Norvig: Ich war auf beiden Seiten. Ich bin in die Wirtschaft gegangen, um die Dinge tun zu können, die ich tun wollte. Ich wollte mehr Computerpower, größere Teams und mehr Möglichkeiten. In der Industrie war das einfacher. Viele Formen von Forschung lassen sich wunderbar im akademischen Bereich betreiben. Aber in bestimmten Feldern hilft es immer noch, Zugang zu tausend Computern auf einmal zu haben. Und den bekommt man nur in der Wirtschaft. Natürlich werden Innovationen von Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen manchmal länger geheim gehalten. Ich denke aber, es gibt durch diese Unternehmen mehr Fortschritte, als wenn es sie nicht gäbe.

STANDARD: Hat sich seit Beginn Ihrer Karriere viel verändert?

Norvig: In der Tat. Als ich begonnen habe, war ich der Überzeugung, dass ich eine sehr spezifische Geheimwissenschaft betrete. Ich durfte einen Computer benutzen, als die meisten Leute ihr ganzes Leben keinen berührten. Heute trägt jeder einen in seiner Hosentasche herum. Ich habe nicht gedacht, dass es solch ein wichtiger Teil des täglichen Lebens werden würde. Deshalb liegt jetzt bei uns Informatikern aber auch eine größere Verantwortung. (Johannes Lau, DER STANDARD, 1.4.2015)