Man nennt ihn auch den Fledermausmann: Seit er denken kann, klickt Daniel Kish mit der Zunge. Er bewegt sich schnell und sicher, denn Hauswände, Autos, Bäume und Ampeln erkennt er anhand der Echos. Kish hat die Technik derart perfektioniert, dass er auch Rad fährt und wandern geht.
Umgebung abfragen
Mit 13 Monaten verliert der 50-jährige Kalifornier sein Augenlicht und lernt, mit den Ohren zu sehen: "Indem ich klicke, frage ich meine Umgebung: Wer bist du? Was bist du? Wo bist du?", sagt Kish. Da sich alle Geräusche durch Schallwellen ausbreiten, prallen sie, wenn sie auf einen Gegenstand wie etwa einen Laternenpfahl treffen, daran ab.
Mithilfe dieser Echos lokalisiert Kish die Richtung, die Größe und auch die Struktur des Objekts – lange bevor sie im Weg stehen. Der Blinde vergleicht die Technik mit dem Blitzlicht einer Kamera: Plötzlich "erhellt" sich die Dunkelheit und gibt die Details der Umgebung preis. Ein guter Echoorter erhält so eine sehr präzise Vorstellung seiner Umwelt, wenn auch Farben und Gegenstände, die kleiner als zwei Zentimeter sind, nicht erkannt werden.
Eigenständiger Sinn
"Die Echoortung beim Menschen funktioniert ähnlich wie bei Fledermäusen und Delfinen und ist ein eigenständiger Sinn", sagt die führende Forscherin auf dem Gebiet, Lore Thaler von der Durham Universität in England. Eine aktuelle Studie aus Kanada bestätigt das: Im Versuch mussten die Probanden drei gleichschwere, aber unterschiedlich große Würfel an einem Seil hochziehen.
Drei Gruppen nahmen daran teil: Blinde, die keine Echos orten, Blinde, die Echos orten, und Sehende. Nur die Blinden ordneten das Gewicht richtig zu. Die Sehenden und die echoortenden Blinden gaben an, dass der größte Würfel am leichtesten war. Beide Gruppen unterlagen der sogenannten Größengewichtstäuschung, nach der das größere Objekt leichter wirkt.
Das passiert, weil man der Größe wegen unbewusst mehr Kraft einsetzt und das Gewicht deswegen leichter erscheint. "Die Echolokalisation kann andere Sinne beeinflussen und damit die Wahrnehmung", sagt der Studienleiter Gavin Buckingham von der Universität Edinburgh.
Wie es im Gehirn funktioniert
Thaler konnte 2011 zeigen, wo im Gehirn die Echos bei Blinden verarbeitet werden. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie – eines bildgebenden Verfahrens – verglichen sie und ihre Kollegen die Gehirnaktivität von blinden Echoortern und Sehenden. Das Ergebnis überraschte: Bei Blinden werden die Echos nicht wie erwartet in dem Teil des Gehirns verarbeitet, der für das Hören zuständig ist, sondern im sogenannten visuellen Cortex, dem Sehzentrum des Gehirns.
Auch Sehende können ihre Umwelt mit ein wenig Übung durch Echoortung wahrnehmen. Ein besonders gutes Gehör ist dazu nicht nötig, Training hingegen schon, wie eine spanische Studie belegt: Wer zwei Wochen lang täglich zwei Stunden trainiert, kann sich danach grob orientieren. Bei Sehenden ist der Sinn in aller Regel verkümmert, da das Gehirn darauf programmiert ist, störende Geräusche auszublenden, und die Wahrnehmung durch das Sehen stark dominiert wird.
Echonuancen erkennen
Blinde produzieren Echos auf verschiedene Weise: Manche Blindenstöcke haben Metallkappen an den Spitzen, um einen besonders kräftigen Schall zu erzeugen, andere Blinde schnippen mit den Fingern. Laut Wissenschaftern ist aber die Klicksonar-Technik, also das Zungenschnalzen, den anderen Methoden überlegen: Denn der Winkel zwischen Sender (Zunge) und Empfänger (Ohren) bleibt allzeit konstant. Langfristig erleichtert das dem Gehirn die Verarbeitung der feinen Echonuancen.
Obwohl die Methode Blinden ein Plus an Autonomie verleiht, ohne jedoch den Blindenstock zu ersetzen, wird sie in den meisten Ländern bis heute nicht systematisch gelehrt. Statistiken, wie viele Blinde die Methode zur Orientierung nutzen, fehlen. Es ist Daniel Kish zu verdanken, dass sie einer breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt wurde: Als Meister der Echolokalisation entwickelte er die Klicksonar-Technik für Sehbehinderte weiter, hält weltweit Vorträge und unterrichtet Blinde über seine gemeinnützige Organisation World Access for the Blind.
Viel Training erforderlich
Der deutsche, spendenfinanzierte Partnerverein "Anderes Sehen" kämpft im deutschsprachigen Raum für die Verbreitung der Methode. Seit 2011 hat "Anderes Sehen" über 100 sogenannte Mobilitätstrainer in der Methode ausgebildet. In Österreich wurde Klicksonar inzwischen vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur auf breite Basis eingeführt.
Zimmermann, ein Initiator des Vereins, erklärt sich die zögerliche Haltung der Blindenorganisationen folgendermaßen: "Viele Blinde sind überzeugt, dass sie die Technik schon kennen. Dass das ein alter Hut ist, der aufgebauscht wird." Thaler stellt jedoch klar: "Es ist ein großer Unterschied, ob man die Technik bewusst mit der Zunge trainiert oder ob man sie eher rudimentär betreibt. Bei den einen entsteht ein unscharfes Bild, bei den anderen ein sehr präzises."
Weswegen die Forscherin dafür plädiert, blinde Kinder so früh wie möglich spielerisch an die Methode zu gewöhnen. Denn um die Technik perfekt zu beherrschen, müssen Blinde mehrere Jahre trainieren. Was nicht bedeutet, dass Erwachsene nicht auch davon profitieren: "Die Lernkurve ist sehr steil", sagt Zimmermann.
Manchen Blinden ist die Vorstellung unangenehm, mit schnalzender Zunge durch die Straße zu laufen. Doch Sehende nehmen es wegen der geringen Lautstärke kaum wahr. "Hier in Durham hat sich das Klicken schon mehr etabliert", sagt Thaler, "es ist nützlich, viele Leute kennen es, und niemand wird deswegen stigmatisiert." (Juliette Irmer, DER STANDARD, 28./29.3.2015)