Zärtlicher oder bedrohlicher Blick auf die Geliebte? Alice Dwyer in "Ma folie".

Foto: Filmladen

Wien - Hanna (Alice Dwyer) ist Psychotherapeutin. Sie arbeitet in einer Einrichtung mit traumatisierten Kindern. Ihr Lebens- und Arbeitsumfeld spiegelt ein multikulturelles Wien wider, das man so selbstverständlich - also ohne dass dieser gesellschaftliche Hintergrund explizit Thema wäre - noch immer viel zu selten im Kino sieht. Wir begegnen Hanna allein auf Sprachurlaub in Paris, abends in einem kleinen Lokal voller junger Leute. Ein paar Tische weiter sitzt einer mit seinen Freunden. Er schaut auf, wechselt ein paar Blicke mit Hanna. Als sie das Lokal verlässt, holt er sie auf der Straße ein. In wenigen dynamischen Strichen zeichnet der Film den Beginn von etwas, das ein Urlaubsflirt werden könnte.

Zwanghaftes Begehren

Yann (Sabin Tambrea) ist ein blasser, hohlwangiger Romantiker. Er dreht mit seinem Handy kleine Bewegtbildminiaturen, "Lettres filmées", Alltagsimpressionen, mit Liebeserklärungen unterlegt. Dass schon der erste dieser Videobriefe an Hanna um den Moment kreist, "wenn du einmal wirklich gehst" - das kommt bei der Empfängerin als verliebter Überschwang an. Dass Yann ihr bald, nur für ein paar Tage natürlich, nach Wien nachreist, das passt ins Bild des gefühlvollen, seinen Impulsen folgenden Geliebten. Genau wie auch noch der Umstand, dass er beschließt, bei ihr in Wien zu bleiben. Aber die Kehrseite dieser verliebten, körperlich intensiven Zweisamkeit ist die Vereinnahmung, der Einschluss: Yann will Hanna für sich allein. Und dieses Begehren entpuppt sich schnell als zwanghaft, der romantische Held kehrt als Fürst der Finsternis zurück.

Ma folie, "mein Wahn", behandelt die Ambivalenz großer Gefühle. Er erzählt eine Liebesgeschichte, die sich zum Thriller wandelt. Das Treatment zu Ma folie erhielt bereits 2005 den Carl-Mayer-Drehbuchpreis. Die Autorin, die junge österreichische Dokumentarfilmerin Andrina Mracnikar, hat den Stoff nunmehr selbst für die Leinwand adaptiert. Sie hat den Genreplot allerdings nicht mit den Mitteln des Genrekinos umgesetzt. Vielmehr entwirft sie zunächst eine Beziehungsstudie im milieurealistischen Modus und durchsetzt diese nach und nach mit klassischen Spannungselementen (Geräusche im Stiegenhaus und andere Indizien heimlicher Nachstellung).

Die Nebenfiguren, die Ma folie anfangs eingeführt und dezent vom Standardpersonal vieler heimischer Produktionen abgesetzt hat - Hannas beste Freundin und Nachbarin Marie (Gerti Drassl), ihr Ex-Freund und Arbeitskollege Goran (Oliver Rosskopf) sowie Team und Klientinnen der Sozialeinrichtung -, rücken in den Hintergrund. Während die Etablierung dieses Umfelds im ersten Drittel des Films Neugierde weckt, macht die Verlagerung des Erzählschwerpunkts auf die Stalking-Geschichte - und auf die Perspektive Hannas - den Film auch fürs Publikum ärmer.

Und zwar auch deshalb, weil Hanna selbst zu oberflächlich bleibt, um einen mitzureißen und völlig für ihre Situation einzunehmen. Ma folie will aus ihr keine Horrorfilm-Scream-Queen machen und keine durchpsychologisierte, große dramatische Nervöse. Er findet für seine Heldin aber auch keine entschiedene eigenständige Position. Trotzdem erweitert Mracnikars Debüt das Spektrum der zeitgenössischen Österreich-Bilder und filmischen Zugänge auf interessante Weise. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 27.3.2015)