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Ein Unglück, das tief bewegt.

Foto: APA/dpa/Maja Hitij

Es war an einem März-Tag im Jahr 2012. Damals verunglückte ein Bus in einem Schweizer Tunnel. 22 belgische Schulkinder im Alter von 12 Jahren starben. Sie waren auf der Heimreise nach einem fröhlichen Skikurs-Abenteuer. Ich habe mich damals sehr bewusst auf diese Tragödie eingelassen. Sehr genau hingefühlt. Bilder im Kopf entstehen lassen. Und dann geweint. Ich konnte gar nicht anders.

Die Gedanken an die Eltern, Geschwister, Freunde, an deren Fassungslosigkeit und den Schmerz – ein Albtraum. Und dazu diese tückische Ahnung: Es hätte mein Kind, das ich wenige Tage zuvor nach einem Skikurs glücklich abgeholt hatte, sein können. Die gedankliche Wahrscheinlichkeit war ja in diesem Fall besonders hoch. Und entfaltete daher ihre sehr spezielle Wucht. Ich habe damals genau diese Geschichte aufgeschrieben. Und selten in meinem journalistischen Leben bekam ich so viele berührende Rückmeldungen. Solidarität im Angesicht der entsetzlichsten aller Vorstellungen: Dem eigenen Kind ins Grab nachschauen zu müssen.

Fast auf den Tag genau drei Jahre später stürzt das Flugzeug 4U9525 im Süden Frankreichs ab. Zerschellt in den Alpen. 150 Menschen sterben. Unter ihnen auch 16 deutsche Schüler im Alter von 15 Jahren. Und wieder beginnt sich fast wie auf Knopfdruck das gleiche Kopf-Karussell zu drehen. Ein Unglück, das mich tief bewegt. Auch, weil mir vom Schicksal im Geiste wieder einmal symbolisch meine Tochter gnadenlos entrissen wurde.

Fakten und Empathie

Die Medien überschlagen sich natürlich mit Geschichten – Extraseiten hier, Sondersendungen da, es wimmelt vor Analysen und Spekulationen. Dass dabei in gewohnter Art und Weise auch jede Verhältnismäßigkeit, jede Pietät, jeder Respekt vor Fakten und Empathie verloren geht, und zwar nicht nur in der Boulevard-Gosse, steht auf einem ganz eigenem Blatt Papier.

Kollektive Betroffenheit

Aber das Spektakel trägt natürlich dazu bei, dass sich vor unseren Augen in rasender Geschwindigkeit eine extreme kollektive Betroffenheit aufbaut, die uns als Monster packt und zu verschlingen droht. Aber dieses Monster wird für uns Außenstehende so schnell verschwinden wie es gekommen ist. Die Betroffenheit wird kleiner und sich schon nach wenigen Tagen bis auf einen kleinen Rest, der als Erinnerung zurückbleibt, auflösen. Und das ist gut so.

Dynamik der Trauer

Die Dynamik der Trauer nach solchen Ereignissen ist freilich nicht neu. Und auch die reflexartige Kritik daran nicht. Aber in die mischt sich mit Vorliebe auch verstärkt jener Hinweis-Furor, der mich zunehmend richtig zu ärgern beginnt. Die sozialen Netzwerke tragen dazu klarerweise entscheidend bei, denn mittlerweile bleibt uns – ob wir wollen oder nicht – tatsächlich keine Meinung mehr verborgen, und sei sie noch so blöd oder jenseitig. Ganz schwer ist es, das auszublenden, zu überlesen, zu ignorieren. Umso mehr folge ich nun meinem Bedürfnis, über eine zu solchen Anlässen wie das Amen im Gebet auftauchende Gruppe von Aber-Schreiern zu schreiben.

Zynismus in sozialen Netzwerken

Ich lese: "So erschütternd es auch sein mag, aber es ist zynisch, 150 Tote eines Flugzeugabsturzes in diesem Ausmaß zu beklagen, während vor Lampedusa Jahr für Jahr tausende Menschen nahezu abseits der öffentlichen Wahrnehmung absaufen." Einmal abgesehen davon, dass es in dieser Zuspitzung nicht wahr ist, aber: Ich finde das nicht zynisch. Ich finde es vielmehr zynisch, so etwas zu schreiben.

Zeigefingerakrobaten der Entrüstung

Doch mittlerweile tauchen die selbst ernannten Relativierer und Mahner zu jedem erdenklichen tragischen Anlass so zuverlässig auf der Bühne der Moral-Inszenierung auf wie der Schnittlauch auf der Suppe. Die Zeigefingerakrobaten, die mit ein paar wenigen flott aufgeschriebenen Stehsätzen höchst effektiv und für viele gefällig die Toten auf die Waagschale der ethischen Entrüstung legen. Die sich vor lauter nüchterner Zurechtrückung keine Sekunde lang ernsthaft überlegen, warum uns mehr als 400 Tote bei einem Erdbeben in der chinesischen Provinz Yunnan tatsächlich nicht mehr als doppelt so nahe, sondern bestenfalls halb so nahe gehen wie 155 Tote in einer Gletscherbahn in Kaprun. Die auch wissentlich die Gesetzmäßigkeiten unserer vielen Ängste verdrängen oder beiseite lassen, einerlei, ob das Phänomen Fliegen und der außergewöhnliche Grusel der Absturzphantasie die Hauptursache für das Entsetzen und die Anteilnahme der Leute ist.

Als gäbe es ein Betroffenheitsranking

Nix da. Statt dessen erklären sie mir mit dem exklusiv-erhabenen Blick für das Ganze wieder und wieder: So darfst du nicht denken. So darfst du nicht fühlen. So darfst du nicht trauern. Gerade so, als gäbe es ein in der menschlichen Seele fest verankertes Betroffenheitsranking, das für die notwendige Wertigkeit sorgt, und an das wir uns als korrekte Gesellschaft zu halten haben. Platz 1, Hunger in der Welt, alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Welt ein Kind, ... Platz 398, eine Germanwings-Maschine mit 150 Menschen an Bord zerschellt in den Bergen. Also, wenn das nicht jede aktuelle Fassungslosigkeit ad absurdum führt …

Grauenhaft. Denn so funktioniert das nun einmal nicht. Und das hat auch einen Sinn. Die Natur hat das so eingerichtet, einen Filter in der DNA. Sonst müssten wir von früh bis spät heulen. Und das tun jene, die permanent damit beschäftigt sind, Toten-Vergleiche aufzustellen (weil sie ja dem Mainstream entrückt nur den Blick auf die Dramen-Vielfalt lenken wollen), vermutlich am allerwenigsten.

Ja, das kann und muss man so sagen: Es ist ein entscheidender Unterschied, ob es nach der Explosion einer Autobombe im Irak 38 Tote gibt, oder nach einem Lawinenunglück in Galtür. Ob Terroristen mitten in Paris ein paar Karikaturisten erschießen oder in Nigeria eine halbe Stadt niedermetzeln. Jede Tragödie macht auf eine bestimmte Weise etwas mit mir. Aber ich suche mir den Unterschied nicht aus. Es ist nicht so, dass ich in den Gefühlsladen spaziere, ein bisserl Tragik gustiere und dann entscheide, wie viel Trauer ich nehme und an wie viele Opfer ich sie verteilen will. Es ist nicht so, dass ich meine Emotionen ausschalte und den Verstand bewerten lasse, welcher Zorn, welche Traurigkeit, welche Ohnmacht mir angemessen und berechtigt erscheint.

Beim Trauer-Wettrennen nicht am Start

Nein. Lasst mich endlich in Frieden mit dem ständigen Aufrechnen von Leid. Das ist unehrenhaft. Wenn dieses Flugzeug von Barcelona nach Düsseldorf fliegen soll und plötzlich abstürzt, dann entstehen, das weiß auch jeder Relativierer, wenn er es denn wissen will, schlagartig Bilder. Bilder der Nähe, des Vertrauten, des Alltäglichen. Bilder, in die ich mich selbst oder meine Liebsten mit allergrößter Leichtigkeit hineinprojizieren kann. Bilder, die mir das Unglück persönlicher, greifbarer, wahrscheinlicher machen. Dagegen kann ich mich gar nicht wehren. Und die meisten anderen Menschen können es auch nicht. Das ist auch der Grund, warum wir einen toten Freund mehr beweinen als tausend tote Fremde. Deshalb habe ich doch kein schlechtes Gewissen. Werde ich mich nicht rechtfertigen. Bin ich nicht gefühlskalt gegenüber unzähligen anderen Schrecklichkeiten. Ich stehe nur einfach beim großen Trauer-Wettrennen nicht am Start.

Lieber fühle ich einfach nur hin. Nähere mich behutsam, aber beengt, der Geschichte. Bin dabei so betroffen, wie ich es sein will. Und übermittle zumindest in Gedanken das einzige, was ich geben kann: Mein aufrichtiges Beileid. (Michael Hufnagl, derStandard.at, 26.3.2015)