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Ahmet Davutoglu (links) ist Premier und Parteichef, doch Präsident Erdogan (rechts) will lenken.

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Der türkische Volksmund hat für jede Lebenslage einen Spruch bereit. "Wer den Vogel fürchtet, baut keinen Mais an", merkte Bülent Arinç an, der türkische Vizepremier und Regierungssprecher. Hören sollte das Parteifreund Melih Gökçek, der Bürgermeister von Ankara, mit dem Arinç nun Feindseligkeiten eröffnet hat. Gökçek hat so viel Dreck am Stecken, dass er besser schweigen sollte, wollte der Vizepremier damit sagen.

Zweieinhalb Monate vor den Parlamentswahlen leistet sich die bisher so mächtige Regierungspartei AKP einen Streit über Korruption, Nepotismus und die Rolle von Staatschef Tayyip Erdogan.

Regierungs- und Parteichef Ahmet Davutoglu, der bisher am meisten unter dem Führungsanspruch von Erdogan zu leiden hatte, war am Mittwoch bemüht, die Affäre rasch aus dem Blick der türkischen Öffentlichkeit zu rücken. Das Disziplinarverfahren, das Davutoglu am Vortag gegen Arinç - immerhin ein Mitbegründer der AKP - und Bürgermeister Gökçek angekündigt hatte, nahm er umstandslos wieder zurück: "Meiner Ansicht nach ist die Streitsache erledigt."

Gegen die zwei führenden Politiker der regierenden konservativ-islamischen Partei der Gerechtigkeit und des Fortschritts ermittelt nun gleichwohl die Staatsanwaltschaft in Ankara. Gegen Gökçek wegen des Vorwurfs der Korruption, gegen Arinç wegen möglicher Verschleierung einer kriminellen Tat. Schließlich hatte der Vizepremier doch angekündigt, er werde nach der Parlamentswahl am 7. Juni alles über Gökçek sagen. Er sei sich nicht sicher, für wen es nachteiliger werde, wenn er vor Gericht Fragen über Gökçek beantworte, sagte Arinç drohend.

Tägliche Einmischung

Doch hinter den gegenseitigen Vorwürfen, die sich beide Männer machen, steht der immer größer werdende Konflikt über die Rolle von Tayyip Erdogan, der als Staatspräsident laut Verfassung unparteiisch sein sollte, aber sich täglich in die türkische Politik und ins Leben seiner Partei einmischt.

Arinç hatte den Präsidenten am vergangenen Wochenende in bis dahin beispielloser Weise kritisiert, weil dieser wiederholt öffentlich Einwände gegen die Verhandlungen der Regierung mit den Kurden erhoben hatte. "In diesem Land gibt es eine Regierung", stellte Arinç fest; Erdogan solle keine Erklärungen am Bildschirm abgeben und nicht so tun, als sei er nicht umfassend über die Schritte der Regierung informiert.

Gerade als Arinç sich wieder beruhigte, schlug @06Gokcek zu. Der AKP-Bürgermeister von Ankara, der bekannt ist für seinen aggressiven und erratischen Stil, hat Twitter-Kampagnen zum Bestandteil seiner Politik gemacht. Arinç solle zurücktreten, es sei genug, twitterte Gökçek. Arinç sei "parallel", behauptete der Bürgermeister, also ein Gefolgsmann des Predigers Fethullah Gülen, der laut Regierung einen Parallelstaat in der Türkei errichtet hätte.

Arinç, ein frommer, erzkonservativer Politiker, konnte sich da nicht mehr zurückhalten. Gökçek sei kein ehrenhafter Mann, sagte der Vizepremier; der Bürgermeister wolle seinen Sohn als Kandidaten bei den Parlamentswahlen durchsetzen, erklärte Arinç, Stück für Stück habe er die Hauptstadt an die Gülen-Bewegung verkauft. Gökçek hatte im Vorjahr bei äußerst umstrittenen Wahlen eine fünfte Amtszeit gewonnen.

Arinç nicht mehr lange im Amt

In der Türkei wird nun eifrig spekuliert und analysiert. Der 66-jährige Arinç sieht dem Ende seiner Zeit in Parlament und Regierung entgegen, was seinen plötzlichen Ausbruch gegen Erdogan erklären könnte. Ein Parteistatut der AKP verbietet mehr als drei Amtszeiten hintereinander. Die haben Arinç und eine Reihe von Ministern und Parlamentariern nun erreicht. Unklar ist, ob Gökçek auf eigene Faust gehandelt hat oder von Erdogan vorgeschickt wurde.

Denn der Staatschef toleriert keine Kritik und fürchtet ein vergleichsweise schwaches Abschneiden der AKP bei den Wahlen. Seine Partei müsste mehr als 367 der 550 Sitze gewinnen, um im Alleingang eine neue Präsidialverfassung durchzusetzen; oder mehr als 330, um ein Referendum über eine Verfassung zu erzwingen. 2011 gewann die AKP knapp 50 Prozent der Stimmen und 327 Sitze. Ein starkes Abschneiden der Kurdenpartei HDP und der Rechtsnationalisten könnte Erdogans Plan, endlich Präsident mit einer Präsidentenverfassung zu sein, zunichtemachen. (Markus Bernath aus Ankara, DER STANDARD, 26.3.2015)