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Die Jahrhundertgestalt Pierre Boulez, der als Jubilar heute unter anderem beim Tiroler Osterfestival gewürdigt wird: Strenge und Klangschönheit unter einen Musikhut bringen - als Dirigent wie auch als Komponist.

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Wien - Es gab Zeiten, da erklärte er Arnold Schönbergs Ästhetik für tot und Opernhäuser zu reaktionären Räumen, die es in die Luft zu sprengen gelte. Es gab Zeiten, da war Pierre Boulez, der am Donnerstag seinen 90er feiert, der zornige Intellektuelle der Avantgarde. Also ein Radikaler der Neuen Musik, den man in der Rückschau (neben Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen) zur "Darmstädter Schule" zu zählen begann.

Diese frühe Phase allein hätte Boulez einen Platz in der Musikgeschichte gesichert - wohl auch unter dem Begriff des Serialismus: Das Schlagwort meint verkürzt die Übertragung der Zwölftontechnik auf die Parameter Dynamik, Rhythmus und Klang. Überblickt man allerdings das Lebenswerk dieses Universalgelehrten, scheint sein Charisma nicht unwesentlich darin zu bestehen, Historie, Gegenwart und Zukunft versöhnend zu repräsentieren.

Selbst als etablierte Autorität des Klassikbetriebes, die ihr Schaffen bei der Deutschen Grammophon dokumentieren kann, blieb Boulez ein zwar freundliches Gesicht - aber eines der Unbestechlichkeit. Boulez zog sich nicht auf eine dirigentische Neubefragung alter Werke zurück.

Vielmehr vermittelte er weiter Zeitgenössisches, förderte Junge und kämpfte für eine Institutionalisierung von Innovation. Als Stardirigent war er, der mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen passiv bleiben muss, eine Art trojanisches Pferd, das Tradition pflegte, um die Moderne elegant in den Betrieb zu schleusen.

Wobei zu den nachhaltigen Erfolgen Boulez' die Gründung der "kompositorischen Forschungsstätte" IRCAM (1976) wie des Ensemble Intercontemporain zählen. Letztlich hatte Boulez aber zu dirigieren begonnen, um seine und die Werke der Moderne nicht nur adäquat zu hören, sondern sie überhaupt zu hören.

Dirigieren in Bayreuth

Und damals, 1954, bei der Konzertreihe Domaine Musical, hätte er sich wohl nicht träumen lassen, 1976 in Bayreuth beim Jahrhundert-Ring neben Regisseur Patrice Chéreau zu stehen. Und womöglich hätte er später - nach diesen auch schwierigen Erfahrungen - kaum vermutet, auf den gerne unbequemen Grünen Hügel zurückkehren zu wollen.

Boulez aber ließ sich 2004 auf Regisseur Christoph Schlingensief und dessen Ideen zu Parsifal ein. Und es war wohl Boulez' gelassene Neugier, die das Unternehmen vor dem Auseinanderbrechen im Skandal bewahrte. Wer dabei war, wird nicht vergessen, wie sich nach wilder Buhorgie für Schlingensief alles in applaudierende Ehrfurcht verwandelte, als Boulez, diese Integrationsfigur, erschien. Ebenso wird auch die subtile Intensität der Musik in Erinnerung bleiben. Bei Wagner verzauberte, was bei Boulez immer galt: Ob er nun Mahler dirigierte oder Bartók - abseits von billigem Effekt erreicht er Intensität über die Mittel Intimität, Transparenz und Klangsinnlichkeit. Zauber war zugegen, jedoch immer ein unaufdringlicher.

Ewiges Neudeuten

Hört man Stücke des 1925 in Montbrison Geborenen, bemerkt man neben struktureller Eleganz und Strenge auch eine Klangpoesie, die an Impressionismen anzuschließen scheint. Zu bemerken ist also eine Verwandtschaft zwischen Dirigier- und Kompositionsästhetik. Wobei die Werke oft "Objekte" ewiger Neudeutung wurden. Pli selon pli, in den 1950ern begonnen, fand 1989 seine endgültige Gestalt. Répons wuchs seit der Uraufführung von 15 auf 45 Minuten. Und Notations (für Klavier komponiert) wurden auch für Orchester weitergedacht.

Boulez hat übrigens nie bereut, nicht nur Komponist geblieben zu sein. "Ich habe zwar viel für zeitgenössische Musik gemacht, was Organisation und das Gründen von Institutionen anbelangt, aber muss ich das bedauern? Ich glaube, nicht sehr", sagte er im STANDARD-Interview. Und: "Der Komponist Boulez hat sehr viel davon profitiert. Ich habe viel über Wahrnehmung nachdenken können, über die Beziehung zwischen dem, was man schreibt, und dem, was man hört. Wenn ich nicht das IRCAM gegründet hätte, wären viele Fragen bezüglich Technologie, Mikrointervallen und Rhythmik ohne Antwort geblieben." (Ljubiša Tošić, DER STANDARD, 26.3.2015)