Der geniale Satiriker Karl Kraus, der kompromisslose Kriegsgegner in einer Zeit, in der fast die gesamte Intelligenz dem Kriegstaumel verfallen war, scheint in seinem Frauenbild seltsam gespalten. Wollen doch seine frauenfeindlichen Aphorismen durchaus nicht zu den klugen und interessanten Frauen passen, mit denen er sich im realen Leben umgeben hat.

"Die schöne Frau hat so viel Verstand mitbekommen, dass man alles zu ihr oder nichts mit ihr sprechen kann", heißt es da etwa in seiner Theorie, oder: "Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sagt sie sie mit verhülltem Haupt. Aber selbst dann ist das Schweigen eines schönen Antlitzes noch anregender." Wie, so fragt sich die verblüffte Nachwelt, lässt sich das mit seinem engen Umgang mit begabten Schauspielerinnen und Schriftstellerinnen vereinbaren, mit denen er sehr wohl geistreiche Gespräche führte, wie ein umfangreicher Briefwechsel bezeugt?

Auch Karl Kraus war - ebenso wie der große Freud - in seinem Frauenbild ein Kind seiner Zeit. Wohl hat er seine Ansichten mit fortschreitendem Alter in gewisser Hinsicht revidiert. Völlig aber hat er sich wohl nie davon losgesagt, sah er doch in diesen gescheiten Frauen Ausnahmen, Kapriolen einer launischen Natur sozusagen, die eine Regel bestätigten.

Kraus verehrte die sinnliche Frau, die er dem geistvollen Mann gegenüberstellte: "Des Weibes Sinnlichkeit ist der Urquell, an dem sich des Mannes Geistigkeit Erneuerung holt", lautet ein weiterer Aphorismus. Allerdings macht er gleichzeitig deutlich, dass er diese weibliche Sinnlichkeit keinesfalls als kongeniale Ergänzung der männlichen Geistigkeit, sondern letztlich als entbehrlich betrachtet: "Das Weib ist manchmal ein ganz brauchbares Surrogat für die Selbstbefriedigung. Freilich gehört ein Übermaß an Phantasie dazu." Die Schriftstellerin Paula Schlier hat es drastisch ausgedrückt: "Bei Karl Kraus musste alles einer geistigen Aufgabe dienen. Er hatte eine Idee, und in diese Idee mussten auch die Frauen hineinpassen. Er fühlte sich grundsätzlich über ihnen."

Es war die polyandrische Frau, die ihre Sexualität frei auslebt, die ihn faszinierte und die er der verzopften, verlogenen Moral der Jahrhundertwende gegenüberstellte, die einerseits die Hure verachtete, sich ihrer aber andererseits bediente. Mit seiner Hurenverherrlichung befand er sich in Gesellschaft vieler Literaten und Intellektueller der Jahrhundertwende, auch Georg Trakl hat die Prostituierte fasziniert, auch Otto Weininger hat sie wegen ihrer "Ehrlichkeit" höher eingeschätzt als die Mutter. Mit Weininger hatte Kraus überhaupt einiges gemeinsam, wenngleich sein berühmter Ausspruch "Ein Frauenverehrer stimmt den Argumenten ihrer Frauenverachtung mit Begeisterung zu", mit dem er Weiningers frauenfeindliches Werk Geschlecht und Charakter kommentierte, genau anders herum interpretiert werden muss. Denn während Weininger die Frau als angeblich reines Sexualwesen verachtete, genießt sie gerade aus diesem Grund die besondere Hochschätzung von Kraus.

Es darf vermutet werden, dass dieses Eintreten für die sexuell befreite Frau nicht ohne Eigennutz gewesen ist. Die Frau als Konkurrentin allerdings war sehr viel weniger gefragt. Eine politische, gesellschaftliche Emanzipation passte auch nicht in das Frauenbild von Karl Kraus. Folgerichtig sah er in der Frauenbewegung eine Ansammlung von unbefriedigten, hysterischen Weibern, von "Tugendmegären, bei denen sich verhinderte sexuelle Notwendigkeiten in Sozialpolitik umgesetzt haben". Dass freie Liebe nur unter der Voraussetzung einer eigenständigen, finanziellen Absicherung möglich ist, scheint ihm entgangen zu sein. Dass er gleichzeitig die Ausbeutung und soziale Not des "sexuell befreiten" Straßenmädchens und der Prostituierten durchaus erkannt und angeprangert hat, gehört zu den weiteren Widersprüchlichkeiten im Denken des Karl Kraus. Auch dass sich die bürgerliche, vom Ehemann finanziell abhängige Frau ein freies Liebesleben schlicht nicht leisten konnte, scheint er verdrängt zu haben.

Die potenzierte Frau

Allerdings hat er das Bürgertum - dem er selbst entstammte - ohnedies gründlich verachtet. Weshalb auch jene Frauen, die sein Interesse erregten, aus Gesellschaftsschichten stammten, die sich über bürgerliche Moral weitgehend hinwegsetzen konnten: Das waren vornehmlich Schauspielerinnen und Aristokratinnen. Erstere beschäftigen ihn in seiner ersten Lebenshälfte, während er mit Letzeren vor allem in seinem zweiten Lebensabschnitt einen intensiven Umgang pflegte.

"Die Schauspielerin ist die potenzierte Frau", meinte er in seiner Fackel im Jahr 1906. Und die 23-jährige Schauspielerin Anni Kalmar - bürgerlich Anna Kaldwasser - war auch die erste große Liebe des damals 26-jährigen Kraus. Sie starb früh an der Schwindsucht. Er hat sie lebenslang verehrt, ihre Büste stand auf seinem Schreibtisch, Fotos von ihr hingen an der Wand seines Arbeitszimmers, und ihr Grab im Hamburger Friedhof Ohlsdorf schmückte ein von einem Wiener Bildhauer im Auftrag von Kraus angefertigter Grabstein.

Schauspielerinnen haben ihn auch später interessiert, wie etwa die anmutige, zarte Kete Parsenow, die unter Max Reinhardt in Berlin und Wien spielte, schließlich jedoch eine Ehe mit dem deutschen Universitätsprofessor Walter Friedrich Otto dem ungewissen Dasein einer Schauspielerin vorzog. Eine weitere Geliebte war die Schauspielerin Irma Karczeska, "die Kleine" genannt, von dem Arzt und Psychotherapeuten Fritz Wittels, der sich ihre Gunst mit Kraus teilte, als "große Hetäre" und "Kindweib" gefeiert. Kraus, der sie in einem jugendlichen Alter von 14 Jahren "entdeckte", hat sie bis zu ihrem frühen Tod finanziell unterstützt.

Beeindruckt zeigte sich er sich auch von Berthe Marie Denk, die sich als Schauspielerin ausgab, ohne eine wirkliche Ausbildung genossen zu haben. Er scheint bereits im Umgang mit dieser selbstbewussten, klugen Frau, die gleichzeitig auch mit Frank Wedekind ein Liebesverhältnis hatte, seine Ansichten über den fehlenden weiblichen Intellekt etwas abgeschwächt zu haben. Was ihm allerdings nur möglich schien, indem er ihr das Frausein abgesprochen hat: "Wenn ich Dir schreibe ist es mir, als würde ich einem Mann (...) schreiben. Dein Brief ist (...) ungewöhnlich klug."

Klugheit oder Weiblichkeit

Die zwanghafte Vorstellung, dass Klugheit nicht mit Weiblichkeit zusammengehen kann, beschäftigte ihn auch in weiteren Beziehungen, die sich später auf Aristokratinnen konzentrierten. Dass sich die angesehene - heute fast völlig vergessene - Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky, Fürstin und aus uraltem Adel stammend, mit der er eine sehr intensive Beziehung pflegte (ob es ein Liebesverhältnis war, darüber wird gerätselt), ebenfalls gerne männlich gab, wird dazu beigetragen haben, dass er sich in seiner Vorstellung von echter Weiblichkeit wenig gestört fühlte.

Eine gewisse Frauenverachtung, die in der Beschreibung ihrer Protagonistinnen zum Ausdruck kommt, mag der Einstellung von Kraus entgegengekommen sein. Er war häufiger Gast auf ihren Schlössern Grätz und Kuchelna, ebenso wie auf Schloss Pottenstein der befreundeten Gräfin Mary Dobrzensky und auf Schloss Nasice von Dora Pejacsevich. Als Mann verkleidet hat sich oft auch Else Lasker-Schüler, die einzige Frau, die in der Fackel veröffentlichen durfte. Er hat sie jahrzehntelang gekannt und zahlreiche Briefe mit ihr gewechselt, in denen sie ihn mit "Herzog von Wien" und "Dalai Lama" anspricht, während er sie "die stärkste, unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschland" nennt.

Die zu Lebzeiten ebenfalls sehr erfolgreiche Schriftstellerin Gina Kaus hingegen, deren - nach eigenen Angaben - "ehrlicher Versuch" einer Liebesbeziehung mit Kraus an seiner Liebesunfähigkeit oder Liebesverweigerung gescheitert sei, hat eine wohl zutreffende Beschreibung geliefert, wenn sie meint, dass "Kraus' Erotik vornehmlich darin bestand, sich Frauen, an denen er interessiert war, mit anderen Männern vorzustellen ... Ich glaube, dass eine unschuldige Frau ihn niemals interessiert hat."

Gemeinsame Urlaube verbrachte er auch mit Helene Kann, seiner treuen Gefährtin und Mitarbeiterin, die seinen Nachlass vor den Nationalsozialisten gerettet hat. Wahrscheinlich jedoch war es Sidonie von Nádherný, jene Frau, mit der ihn die tiefste, leidenschaftlichste, aber auch wechselvollste Beziehung seines Lebens verband, in der Karl Kraus sein Frauenbild am ehesten verwirklicht sah: zweifellos intelligent, wissbegierig, interessiert an Kunst und Literatur, war sie vor allem "Hörerin", das "Ohr", wie er in einem seiner Gedichte meinte, das er für seine Kreativität benötigte, Muse, die inspirierend wirkte, aber ohne eigene kreative Potenz. Er hat sie ebenso wie ihr Schloss und den Park von Janowitz als Ort der Zuflucht und des Glücks in zahlreichen Gedichten besungen und verherrlicht und unter ihrer Untreue, mit der sie sich häufig seinem klammernden Griff entzog, tatsächlich gelitten. (Hilde Schmölzer, DER STANDARD, 21./22.3.2015)