Andrea Lunzer will in ihrer Maßgreißlerei in der Leopoldstadt die Kunden nicht zu unnötigen Spontankäufen verführen.

Foto: DER STANDARD/Heribert Corn

Das persönliche Gespräch und der Verzicht auf Verpackungen bescheren ihr viele Stammkunden.

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Wien - Was wollen die Leute eigentlich wirklich? Wieso müssen sie im Supermarkt lange Schleifen ziehen, nur damit sie dazu verführt werden, Produkte zu kaufen, die sie gar nicht wollten? Andrea Lunzer hinterfragte moderne Supermärkte und entwickelte das Konzept der Maß-Greißlerei im zweiten Wiener Gemeindebezirk. In dem kleinen Geschäft auf der Heinestraße zwischen Augarten und Prater soll nichts unnötig gekauft werden, es gibt keine Verpackungen und statt schneller Abfertigung ein persönliches Gespräch. Denn die häufigsten Gründe, warum Lebensmittel im Abfall landen, sind falsche Planung von Einkäufen und Mahlzeiten, spontane Genusseinkäufe und falsche Lagerung. Durchschnittlich wirft jeder Österreicher 40 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr weg, was rund 300 Euro Verlust pro Haushalt entspricht.

Dazu kommen Berge an Verpackungsmüll, die nicht nur umweltbewusste Menschen stören. Die Menge aller Verpackungen in Österreich aus Haushalten, Industrie und Gewerbe liegt laut statistischem Amt der EU bei rund 1,2 Millionen Tonnen pro Jahr.

Zur Zeit der Eröffnung vor einem Jahr verwendete Lunzer noch häufig das Wort "Experiment". Die 33-Jährige, die vorher im Marketing tätig war, konnte kaum auf Erfahrungswerte von Konkurrenten zurückgreifen - in Österreich gibt es kein Angebot verpackungsfreier Geschäfte. Doch schon die ersten Wochen gaben ihr mehr Sicherheit. Zunächst kamen die Leute nach der Arbeit oder am Samstag mit ihren eigenen Gefäßen.

Mittlerweile kommen viele auch untertags. Nicht nur junge Leute, sondern auch Pensionisten fühlen sich von dem noch vor wenigen Jahrzehnten weitverbreiteten Konzept des Greißlers angezogen. Zum Einkauf gibt es Informationen zur Herkunft des Produkts und Tipps zur besten Lagerung. Das zieht Menschen aus ganz Wien an. "Es ist ein irrsinniger Vertrauensbeweis, dass wir sogar Stammkunden haben, die einmal in der Woche durch die ganze Stadt anreisen", sagt Lunzer.

Kein Fleisch ist keine Lösung

Zunächst fing Lunzer mit einem kleinen Sortiment an. Das Angebot wurde im Laufe des Jahres ausgebaut. Dabei gab es durchaus Kompromisse mit den Kunden, berichtet sie. Exotische Früchte waren nicht eingeplant. Nun sind etwa Mangos oder Zitrusfrüchte erhältlich. "Viele Leute haben mich darauf angesprochen, dass sie ohne Zitronen nicht kochen können", sagt Lunzer. Es gebe aber Situationen, in denen sie die Nachfrage nicht umsetzt. "Man muss auf die Wünsche der Kunden hören, aber nicht immer nachgeben", sagt sie. Wichtig ist es, zu begründen, warum es bestimmte Produkte saisonal oder überhaupt nicht im Geschäft gibt. "Paradeiser im Winter sind ein absolutes No-Go. Die kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem beheizten Glashaus und schmecken einfach nicht gut. So etwas wollen wir nicht", nennt sie ein Beispiel.

Eingeständnisse gab es bei Schinken und Wurst, die anfangs nicht erhältlich waren: Nun liefern drei österreichische Biobauernhöfe. "Ja, es ist widersprüchlich. Doch wenn man gar nichts anbietet, bringt man die Menschen auch nicht dazu, Fleisch bewusst zu konsumieren", sagt Lunzer. Die Schafzucht Hautzinger aus ihrem Geburtsort Tadten im Burgenland ist ein Zulieferer.

Saisonal und regional

Die Jahreszeiten sollen sich in den Regalen widerspiegeln. Die Schafe in Tadten halten von November bis Februar Winterpause, zu dieser Zeit gibt es keinen Schafskäse. Die Maß-Greißlerei wird dadurch zum Diskussionsort. Einige Kunden hätten sich gewundert, warum es im Winter Karotten aus Österreich gibt. Das Wissen, dass Kohl-, Knollen- oder Wurzelgemüse über Monate lagerfähig sind und viele Vitamine behalten, sei teilweise in der Stadt verlorengegangen. "Es ist immer gut, selbst Informationen zu haben und sich nicht auf die Verpackungstexte zu verlassen", sagt Andrea Lunzer .

Ein großes Anliegen ist ihr das Pfandsystem. Lunzers Produzenten nehmen Glaskonserven oder Weinflaschen zwar zur Wiederbefüllung zurück - doch das ersetze für sie kein verbessertes System. Sie fordert mehr politischen Mut.

Dabei gebe es mit der 0,5-Liter-Bierflasche bereits ein funktionierendes System: Neun Cent werden beim Verkauf dazugerechnet und motivieren dazu, das Leergut zurückzubringen. Lunzer kann sich vorstellen, einen weiteren Standort in Wien zu eröffnen, sagt aber: "Rasante Expansionspläne sind unrealistisch. Wichtig ist, dass die Qualität stimmt. Groß ist nicht immer besser." (Julia Schilly, DER STANDARD, 21.3.2015)