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Als im Jänner in der Region Aisne nach "Charlie Hebdo"-Angreifern gesucht wurde, traf Terrorangst auf Wirtschaftsstagnation.

Foto: EPA/YOAN VALAT

Der Himmel ist ohne Blau, die Werbeflächen ohne Werbung, auf den endlosen Feldern verziehen sich sogar die Raben vor dem Nieselregen. Nur ein Pensionist mit schwarzen Zähnen krächzt im Bistro auf die Frage, ob hier irgendwo der Markt sei: "Y a rien ici" - hier gibt es nichts. Dann nimmt er einen Schluck Rosé.

Oben auf dem Hügel, inmitten der wuchtigen Ruinen, ist noch etwas vom Glanz verflossener Tage zu spüren. Im 13. Jahrhundert war Coucy die größte Burgfestung des Christentums. "Ich bin nicht König, nicht Prinz, nicht Graf - ich bin der Seigneur von Coucy", meinte der Schlossherr Enguerrand III. damals selbstbewusst.

Heute gibt nur noch Marine Le Pen solche Töne von sich. "Am Sonntag werden hier viele von uns gewählt werden", sagt sie im Regionalblatt Nouvelle Aisne, das in der Bar de l'amitié aufliegt. Die Gäste der Freundschaftsbar sind etwas gesprächiger. "Das stimmt", frohlockt einer, "hier wird der Front zuschlagen." Der Wirt lässt auch wenig Zweifel daran, wem seine Sympathien gehören: "Ich habe in 34 Jahren noch kein einziges Mal gewählt, aber die hier regierende Salonlinke verdient einen richtigen Denkzettel."

Massenzuwachs für Rechte

Im Departement Aisne (auszusprechen "Ähn") ist der FN Nummer eins. Bei den Lokalwahlen 2008 kam er auf zehn Prozent der Stimmen; 2011 waren es schon 26 Prozent und bei den Europawahlen 2014 gut 40 Prozent. Die letzte Umfrage prophezeit dem FN in Aisne 41 Prozent. Landesweit werden ihm 30 Prozent gutgeschrieben, etwa gleich viel wie der konservativen UMP und zehn Punkte mehr als den Sozialisten.

Das zuvor "rote" Departement Aisne ist in wenigen Jahren zu einer "terre frontiste" (Frontgebiet) geworden. Das Gebiet zwischen Paris und der nordfranzösischen Metropole Lille leidet unter einem dramatischen Aderlass: Jeder dritte Industriejob ist seit 2000 verlorengegangen. Die Zahl der Bauernhöfe schrumpft.

"Das sind alles Rassisten!"

Die Lepenisten sind nicht mehr nur in urbanen Zonen mit hohem Migrationsdruck zu Hause. Mit stetem Blick auf die Präsidentschaftswahl 2017, bei der Marine Le Pen ins Élysée einziehen will, dringen sie auf das Land vor, in das provinzielle Herz des Landes bis nach Coucy, dessen knapp tausend Einwohner sonntags um die imposante Schlossruine flanieren oder Forellen fischen.

Die rotbackige Bäckerin sieht es weniger idyllisch: "Ach, das sind doch alles Rassisten!" sagt sie auf die Frage, warum die Leute FN wählen. Dabei gäbe es in Coucy gar keine Ausländer, fügt die vor fünf Jahren zugezogene Frau an.

Vor der Bäckerei diskutieren zwei junge Männer unter Schirmen. Der eine fristet sein Dasein in der letzten, plastikverarbeitenden Fabrik des Nachbarortes Folembray. "Es ist einfach", beschreibt er die Lage, "die einen haben ihren Job schon verloren, die andern haben Angst, ihn zu verlieren. Und alle haben die Nase voll." Wem er bei den Wahlen die Stimme geben wird, will er nicht sagen. Aber er wiederholt fast wörtlich, was in den FN-Flugblättern steht: "Man müsste den Bossen verbieten, ihre Fabrik ins Ausland zu verlegen." Und wenn sie den Betrieb darauf schließen? Der Mann zuckt mit den Schultern. Darauf weiß der FN auch keine Antwort.

Jobs nach China gewandert

Sein Kumpan arbeitet in einer Glaserei, die nur noch eine Serviceabteilung unterhält. Ihre Produktion hat sie längst nach China ausgelagert. Seine Frau arbeite in Paris und sehe dort täglich die herumhängenden Ausländer, erzählt er. "Die haben noch nie gearbeitet", sagt er bitter. Etwa, weil sie ebenfalls keinen Job finden? "Das ist noch lange kein Grund, in der Banlieue Autos anzuzünden", fügt der andere an.

Die beiden Männer sind die ideale Kundschaft für Marie-Christine Gilliot. Sie ist die Hauptkandidatin auf der hiesigen FN-Liste. In Coucy-le-Château kennt sie niemand. "Wir wissen nicht, was sie will, noch, was sie vorschlägt", meint eine Bewohnerin von Coucy, die Honig, Zwiebel-Confit und Frênette (Eschensaft) verkauft.

Gilliot, eine 29-jährige Kundenberaterin aus der nahen Kathedralenstadt Soisson, sagt mit entschlossener Stimme, wofür sie sich nach einem Wahlsieg einsetzen würde: für ein Ende der "klientelistischen" Subventionsvergabe, dazu Steuersenkungen für zuzugswillige Firmen. 2007 hatte die aparte junge Frau noch für Nicolas Sarkozy gestimmt, bis sie gemerkt habe, dass die Bürgerlichen nur "heiße Luft machen". Dabei rase Frankreich, wie sie sagt, in Sachen Immigration "direkt in die Mauer".

Gilliots Gegner ist der Bürgermeister von Coucy, Jean-Claude Dumont. Er ist das pure Gegenteil, und ihn kennen hier alle: 67 Jahre alt, Bonvivant und Kommunist. Von einem Salonlinken hat er nichts. Von einem Revolutionär aber noch weniger. An einem Informationsabend erklärt er vor fünfzig Zuhörern, er setze auf den Tourismus, der im Departement heute schon mehr Leute beschäftige als die Landwirtschaft.

Zudem will er, dass der Schulbus durch die Dörfer unentgeltlich bleibt, während der FN dafür einen zusätzlichen Elternbeitrag vorsieht. Unter vier Augen räumt Dumont allerdings ein, dass im Departement immer mehr Arbeiter zum Front National überlaufen. "Viele von ihnen haben früher einmal links gewählt." (Stefan Brändle aus Coucy-le-Château, DER STANDARD, 20.3.2015)