Bei Vorträgen und Interviews trägt John Ellis gerne ein T-Shirt mit der mathematischen Formulierung des Standardmodells der Teilchenphysik - um anhand dessen die Bedeutung des Higgs-Teilchens zu erklären.

Foto: Christian Fischer

Auch den selbstgestrickten Pinguin-Pullunder führt John Ellis gerne aus.

Foto: Christian Fischer

STANDARD: Der Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern wird dieser Tage wieder hochgefahren - mit knapp doppelt so hoher Energie wie in der ersten Saison. Was erwarten Sie davon?

John Ellis: Wir werden mehr Higgs-Teilchen produzieren und sie besser studieren können. Darüber hinaus hoffen wir, neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu finden - aber natürlich wissen wir nicht, ob wir tatsächlich Neues finden werden.

STANDARD: Was könnte das sein?

Ellis: Wir Physiker erzählen uns seit Jahrzehnten, dass es draußen im Universum etwas gibt, das wir Dunkle Materie nennen. Gemäß einigen Theorien sollten die Teilchen, die damit in Zusammenhang stehen, eine tausendmal so große Masse wie Protonen haben. Wenn das tatsächlich so ist, könnte es sein, dass wir diese Teilchen demnächst am LHC produzieren. Möglicherweise finden wir experimentelle Indizien für Dunkle Materie oder Supersymmetrie - das ist meine Lieblingstheorie.

STANDARD: Als das Higgs-Teilchen 2012 entdeckt wurde, gab es Zweifel daran, ob es tatsächlich das Higgs-Teilchen ist und ob es nicht mehrere Teilchen dieser Sorte gibt. Wie denken Sie darüber?

Ellis: Das Teilchen, das gefunden worden ist, sieht sehr nach einem Higgs-Teilchen gemäß dem Standardmodell aus. Wir müssen aber sagen, dass es im Moment keine Gewissheit dafür gibt. In der Supersymmetrie erwarten wir insgesamt fünf Higgs-Teilchen - danach werden wir suchen.

STANDARD: In Ihrem Artikel "Higgs Physics" stellen Sie nach Shakespeare die Frage: "To Higgs or not to Higgs?" Wie lautet die Antwort nach aktuellem Wissensstand?

Ellis: Das war eine Frage, bevor der LHC gestartet ist. Manche Physiker haben alternative Theorien vorgeschlagen - ohne Higgs-Teilchen. Diese Theorien wurden widerlegt: Es gibt ein Higgs-Teilchen, wir wissen nur noch nicht, ob es das oder ein Higgs-Teilchen ist. Die Antwort lautet: "Yes, we have to Higgs!"

STANDARD: Welche offenen Fragen bleiben nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens?

Ellis: Ich zitiere gerne Leute, Sie haben schon Shakespeare erwähnt. Lassen Sie mich nun James Bond zitieren: Es gab den Film Die Welt ist nicht genug. Ich sage: "Das Standardmodell ist nicht genug." Und ich gebe Ihnen 007 Gründe dafür: die Stabilität des Universums, Dunkle Materie, der Ursprung der Masse im Universum, die Masse des Higgs-Teilchens, Größe und Alter des Universums, die Quantisierung der Gravitation, die Masse von Neutrinos - all diese Phänomene müssen von einer Physik angetrieben sein, aber es ist nicht die Physik des Standardmodells der Teilchenphysik.

STANDARD: Apropos Zusammenführung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie: In einem "Nature"-Paper haben Sie 1986 den Begriff "Theory of Everything" geprägt. Dachten Sie damals, dass der Begriff eine solch große Bedeutung bekommen würde, sogar als Filmtitel in die Popkultur eingeht?

Ellis: Ich glaube, dass den Begriff "Theory of Everything" noch vor mir ein Wissenschaftsjournalist benutzt hat. Ich war aber der erste Physiker, der ihn in einer wissenschaftlichen Arbeit verwendet hat. Der Titel meines Nature-Artikels lautete Theory of Everything, or of Nothing?, es ging dabei um die Stringtheorie. Die Leute haben sich eher für den ersten Teil interessiert und den zweiten unter den Tisch fallen lassen. Doch selbst wenn wir eine "Theory of Everything" hätten, könnten wir damit nicht alles im Universum berechnen - etwa, warum haben wir diese merkwürdigen Politiker in Österreich, in England oder in den USA: Das könnte auch eine "Theory of Everything" nicht erklären. Und zum Film The Theory of Everything - ja, ich sollte Stephen Hawking um etwas Geld für seinen Filmerfolg bitten (lacht).

STANDARD: Denken Sie, es wird je eine "Theory of Everything" geben?

Ellis: Die Entdeckung der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein liegt nun hundert Jahre zurück, und wir wissen immer noch nicht, wie sie mit der Quantenmechanik zu vereinheitlichen ist, die zur gleichen Zeit entdeckt wurde. Wir Physiker haben also seit hundert Jahren darin versagt, das Problem zu lösen, das wahrscheinlich das wichtigste der Physik ist. Ich bin dennoch optimistisch. Ich denke, dass die Stringtheorie der einzig seriöse Kandidat dafür ist, sie hat die Struktur, die man für eine "Theory of Everything" braucht. Das Unangenehme ist, dass es viele Arten gibt, ein Modell zu konstruieren, das auf der Stringtheorie basiert. Dabei ist es wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass man niemals beweisen kann, dass eine Theorie richtig ist, nur dass sie falsch ist. Die Stringtheorie ist jetzt an einem Punkt, wo sie Prognosen machen muss, die falsifizierbar sind.

STANDARD: Sie haben für einen Prozess der Teilchenphysik die Bezeichnung Pinguin-Diagramm geprägt, das Sie auf Ihrem selbstgestrickten Pullunder tragen.

Ellis: In den 1970ern, als ein neues Quark entdeckt wurde, habe ich mit Kollegen am Cern die Eigenschaften dieses Quarks studiert. Zu dieser Zeit ging ich eines Abends in eine Bar und spielte mit Freunden Dart. Dabei habe ich die Wette abgeschlossen, wenn ich das Spiel verliere, das Wort Pinguin in meinem nächsten Paper zu verwenden. Und ich verlor. Auf dem Weg nach Hause machte ich einen Zwischenstopp bei Freunden. Meine Frau würde mir nicht erlauben, zu sagen, wie ich dort zu Inspiration kam, aber dann hatte ich die Idee, die Diagramme der Umwandlungsprozesse der Quarks mit der Form eines Pinguins zu beschreiben.

STANDARD: Sie betonen gerne, wie wichtig es Ihnen ist, dass die Physik den Menschen nützt - warum?

Ellis: Die Geschichte zeigt uns, dass jeder Fortschritt, das Universum zu verstehen, den Menschen nützt. Vielleicht nicht sofort, manchmal dauert es, aber schlussendlich immer. Ein Beispiel dafür ist Antimaterie. Postuliert in den 1920ern, entdeckt in den 1930ern in kosmischer Strahlung, wird sie mittlerweile routinemäßig in der medizinischen Diagnose eingesetzt. Prinzipiell gilt: Man kann keine neuen Technologien schaffen, bevor man nicht eine fundamentale wissenschaftliche Entdeckung gemacht hat.

STANDARD: Sie sprechen von der moralischen Verantwortung, am Cern an der Entwicklung des Internets beteiligt gewesen zu sein. Was meinen Sie damit?

Ellis: Physiker haben viele verschiedene Verantwortungen. Eine davon ist, Nichtphysikern zu erklären, was wir tun, warum wir es tun und was wir dabei entdeckt haben. Das Wissen, das wir über das Universum gewonnen haben, müssen wir der Menschheit mitteilen - hoffentlich zu ihrem Nutzen. So wie die Welt organisiert ist, gibt es sehr große Ungleichheiten. Als das Internet aufkam, hatte ich das Gefühl, dass es ein Weg sein könnte, diese Ungleichheiten zu verringern: Beinahe kostenlos können dadurch Menschen auf der ganzen Welt Zugang zur selben Information bekommen. Aber das ist nicht so einfach.

STANDARD: Warum?

Ellis: Immer noch müssen Menschen in Afrika ein Vielfaches von dem für Information aus dem Internet bezahlen, was Menschen in Europa zahlen müssen - gemessen an ihrem Einkommen. Das betrübt mich sehr, denn es zeigt, dass das Internet in gewissem Sinne dazu beigetragen hat, die Ungleichheiten noch zu verstärken. Ich setze mich dafür ein, dass Menschen weltweit Zugang zum Internet bekommen, und ich war sehr aktiv, Menschen in Afrika physikalisches Wissen zu vermitteln - mit Physics Schools in verschiedenen afrikanischen Ländern und Einladungen ans Cern von afrikanischen Lehrern und Studenten. Ich wünschte, ich hätte noch mehr davon tun können. Denn als Wissenschafter will ich nicht dazu beigetragen haben, die Ungleichheiten in der Welt weiter zu vergrößern. Als Wissenschafter habe ich die Aufgabe, sie zu reduzieren. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 18.3.2015)