Wien - Wenn Hilary Mantel Geister sieht, fängt die Luft an zu flimmern. Man weiß nicht recht, was Geister ausgerechnet im Umland von Manchester zu suchen haben. Man schreibt etwa 1960. Die Zeiten sind hart für das untere Segment des englischen Mittelstandes. Mantels Kindheitskaff heißt Hadfield. Die Familie ist irischstämmig, und Hillary wird katholisch erzogen. So steht es in Von Geist und Geistern, der mit zwölfjähriger Verspätung ins Deutsche übersetzten Autobiografie.
Hadfield liegt eingebettet in eine Torflandschaft. Die groben, maulfaulen Männer in Derbyshire stehen mit dem Anhauch von "H"-Wörtern auf Kriegsfuß. Gelegentlich verschwinden sie mit ihrem Bierkrug im Pub, oder sie befeuern als gelernte Schiffsheizer einen alten, rostigen Kessel. Diese Kerle bellen "Ilary", wenn sie Hilary meinen. Großmutter und Großtante hocken, wenn sie nicht gerade den Boden scheuern, auf "hohen, harten Stühlen". Bittet der Tod sie zum letzten Rendezvous, sacken die von Entbehrung gezeichneten Frauen stumm hinunter auf das Linoleum.
Für ein dünnes, sensibles Mädchen wie Hilary scheint der Karriereweg vorgezeichnet. Auf höhere Schulen haben weibliche Wesen in diesem Milieu Verzicht zu leisten. Die vor Schimmel starrenden Reihenhäuser verlässt man, um in die Klosterschule zu gehen. Und doch ist das sterbende Industrieland England der Ausgangspunkt einer der bemerkenswertesten Autorinnenkarrieren. Mantel, heute 62 Jahre alt, wird zweimal den Booker-Preis erhalten. Ihre noch nicht abgeschlossene Trilogie über den frauenmörderischen König Heinrich VIII. trägt ihr höchstes Lob ein.
Unlängst wurde Mantel zum "Commander of the British Empire" ernannt. "Dame Hilary", das arme Einwandererkind, hat auch vor der Royal Family keine Scheu. Aus Anlass eines Vortrages im British Museum bezeichnete sie Kate Middelton, den Liebling der Tabloids, als "schmerzhaft dünn". Mantel hat sich mit ihrer Anmerkung, so steht zu vermuten, die Anwartschaft auf eine dritte Booker-Auszeichnung gründlich vermasselt. Es dürfte ihr egal sein.
Zwei stumme Welten
Niemals verzichtet hat Hilary Mantel auf ihre Sensibilität. Unter Mühen erlernt sie die Kunst, ihre Mitmenschen zu verstehen. Die Bürger in Derbyshire behalten ihre Regungen für sich. Als Hilarys Mutter ihren Mann verlässt, nimmt sie die drei Kinder mit zu Jack, dem neuen Favoriten. Man lebt zwölf Kilometer von Hadfield entfernt, um den Skandal zu vertuschen. Es scheinen Erdteile zwischen den beiden Wohnorten zu liegen.
Mantels Formel für das Kindheitsdilemma ist denkbar unspektakulär: "Die Erwachsenen wollen, dass du Dinge erfährst und sie dann nicht mehr weißt." Man ist versucht, die Unpässlichkeiten des Kindes für psychosomatisch zu halten. Zum Kopfweh gesellen sich bald Wachstumsprobleme. Doch etwas anderes drängt mit Macht nach draußen. Mantels Wahrnehmungen kündigen sich als übersinnliche Phänomene an: "Links von meinem Körper habe ich immer wieder Visionen ..."
Die Luft bewegt sich wie der Dunst über einem erhitzten Streifen Asphalt. Für die Siebenjährige scheint damit der Beweis für die Anwesenheit des Bösen erbracht. Die heutige Autorin ist um die Rationalisierung ihrer Wahrnehmungsweise nicht verlegen. Und doch ist da mehr. Mantels atemberaubend kluge Selbstreflexionen kreisen um ihr eigenes Martyrium. Sie sieht Dinge. Nur die Krankheit, die ihr Leben umkrempelt und es in Teilen zerstört, hat sie niemals kommen gesehen. Die Diagnose "Endometriose" nimmt sich nüchtern aus. Dahinter verbirgt sich eine komplexe Unterleibserkrankung. Der Skandal besteht für die beginnende Jusstudentin im Desinteresse der Mediziner. Man hält sie für hysterisch, verschreibt Psychopharmaka. Prompt verschlechtert sich ihr Zustand. Mantel wird keine Kinder kriegen können. Vielleicht hat sie Middelton auch deshalb eine "Brutmaschine" genannt.
Eine Achterbahnfahrt beginnt für die Frau, deren Würde von Kindheitstagen an mit Füßen getreten wurde. Einst hieß man Hilary "die kleine Miss Niemalsgesund". Als Autorin ihres eigenen Lebens ist Hilary Mantel die souveräne Sachwalterin ihrer selbst. Indem sie auf 250 Seiten mehr offenlässt als ausspricht, verweist sie auf einen kaum für möglich gehaltenen Zusammenhang: Es existiert mehr zwischen Himmel und Hadfield, als Klosterschulweisheit sich träumen lässt. Ein sogenanntes Buch der Saison. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 18.3.2015)