Die Gründlichkeit hat er sich auch bei seinen neuen Beschäftigungen bewahrt: Ein ehemaliger Fabriksbuchhalter gräbt in Nikolaus Geyrhalters "Über die Jahre" Wurzeln aus, um sie zu verheizen.

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Dokumentarfilmemacher Nikolaus Geyrhalter.

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Wien/ Graz - "Es kommt immer alles z'samm." Das Einfamilienhaus bei Niederschrems steht unter Wasser. Die Flut sei in der Früh so schnell gekommen, dass man machtlos gewesen sei. Um halb sieben waren die Räume schon überschwemmt. Der Mann steht hinter der Frau und raucht. Auch noch, als es um seine Arbeitssituation geht, ist sie es, die dem Filmemacher zügig Antworten liefert. Außer "billige Arbeitskräfte", also befristete Jobs in der Umgebung, sagt sie, sei hier nichts zu haben. Die Möglichkeiten im Waldviertel sind begrenzt.

Zu diesem Zeitpunkt ist uns der kamerascheue Protagonist aus Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre schon gut vertraut. Auch er hat im Winter 2004 in jener Textilfabrik gearbeitet - damals wirkte er noch ein wenig nervöser -, die am Anfang dieses Films steht und dabei schon wie ein Relikt aus einer anderen Ära wirkt. Der Dokumentarfilmemacher ist nach ihrer Schließung wiedergekommen. Er hat die ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeiter (und den Exchef) wiederholt aufgesucht, in beiläufige Gespräche verstrickt, am Ende waren es zehn Jahre, ein Jahrzehnt, in dem Zeit für die meisten Protagonisten zu einer veränderten, ja fühlbaren Größe wurde.

Das Außergewöhnliche dieses Films liegt in dem Vertrauen darauf, dass es immer etwas zu sehen, zu erzählen gibt: Da sind Ereignisse, die ausgeblieben sind, und solche, die den Menschen lieber erspart geblieben wären. Und das, was man gerne Alltag nennt, was aber im Leben der Protagonisten zur Herausforderung wird, da es neu bestimmt, anders gefüllt werden muss. Geyrhalter sieht nicht zu früh weg, und er schaut nicht zu lange zu, wenn Scham und Bedauern über die jetzige Situation mit im Spiel sind.

Das erinnert weniger an Boyhood, mit dem man Über die Jahre verglichen hat, als an Langzeitdokumentationen wie jene des Filmemachers Volker Koepp. Dieser hatte in seinem Wittstock-Zyklus Fabriksarbeiterinnen aus der DDR über die Wende hinweg filmisch begleitet. Da wie dort treten in den persönlichen Porträts Spuren des gesellschaftlichen Wandels zutage.

Für den 1972 geborenen Geyrhalter ist Über die Jahre dennoch ein eher ungewöhnliches Projekt; durch die Nähe, die es zu ihm erlaubt, als hörbarem Interviewer, dessen Fragen die Leute gern wortkarg quittieren, aber auch durch den engen Fokus. Seit seinem Debüt Angeschwemmt (1994) hat sich Geyrhalters Radius zunehmend erweitert, durchaus auch im geopolitischen Sinn:

Auf das vom jahrelangen Krieg noch halbtaube Bosnien in Das Jahr nach Dayton (1997) kam die kontaminierte Zone um das AKW Tschernobyl in Pripyat (1999), schließlich mit Elsewhere (2011) eine einjährige Weltreise in zwölf Kapiteln, bei der (noch weitgehend) autarke Lebenspraktiken ins Bild gerückt wurden.

Geyrhalters Filme blieben stets eher thematisch anstatt auf Menschen fokussiert. Schon die Kamera, die größere, oft symmetrische Bildausschnitte bevorzugt, sucht bei ihm stets die Verbindung zum Umfeld, zu den Lebensräumen. Wichtiger als das Bewahren, um das es dem Dokumentarfilm oft geht, scheint bei ihm der Blick auf Spielarten der Gegenwart. Er riskiert den Vergleich von Bildern, begibt sich auf die Suche nach globalen Analogien.

Assoziative Verkettungen

Von Unser täglich Brot (2005) bis Abendland (2011) werden die Filme in der Montage seines langjährigen Mitarbeiters Wolfgang Widerhofer noch assoziativer und zugleich abstrakter. Das Systemische der Nahrungsmittelindustrie zeigt sich in einer auf fast unheimliche Weise beherrschten Natur, der Kultur- und Wirtschaftsraum Europa in Automatismen, die auch nachts nicht stillstehen.

Dem setzt nun Über die Jahre einen auf Personen konzentrierten Zugang entgegen. Doch zugleich zeigt sich darin eben auch, dass größere Umwälzungen der Arbeitswelt sogar im entlegenen Waldviertel Auswirkungen haben. Die ehemalige Sekretärin der Fabrik beispielsweise wird zum Musterbeispiel einer flexiblen Arbeiterin, die zwar ständig woanders wirkt, aber mit derselben beherzten Agilität. Der verschlossene Buchhalter wird sich nach 30 Jahren in Ermangelung von Angeboten dagegen auf die Pflege der Mutter verlegen; seine Ordnungslust befriedigt er nun, indem er seine 14.000 CDs katalogisiert.

Egon Humers ähnlich gelagerte, wichtige Studie einer Fabriksschließung, Postadresse: 2640 Schlöglmühl (1980), war noch von umfassender Depression charakterisiert. Bei Geyrhalter gewinnt man den Eindruck, dass der Schock nachlässt und verebbt - sicher auch ein Effekt der Zeit. Es ist nicht so, dass ein jeder mit dem Leben, das er nun führen muss, seinen Frieden schließen kann. Aber man macht eben weiter, solange es geht - bis wieder einmal alles zusammenkommt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 17.3.2015)