Elmar Brok warnt vor dem Abdriften Griechenlands.

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Ein finanzieller Zusammenbruch Griechenlands bliebe nicht ohne Folgen auch für Flüchtlinge aus Nordafrika wie hier auf einem Frachter vor Kreta Ende 2014: EU könnte die Schengen-Grenzen schließen.

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STANDARD: Über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone wird oft nur ökonomisch geredet – was würde ein "Grexit" außen- und sicherheitspolitisch bedeuten?

Brok: Außenpolitisch wären die Gefährdungen groß. Wenn ein Grexit käme und damit ein Zusammenbruch des Landes, der mit der Zahlungsunfähigkeit verbunden wäre, dann erzeugt das ein sicherheitspolitisches Vakuum. In der Politik ist es wie in der Chemie. Ein Vakuum wird immer wieder aufgefüllt.

STANDARD: Es könnte eine explosive politische Lage entstehen?

Brok: Es könnte etwas anderes hineinströmen in dieses Vakuum. Da müssen wir uns die Frage stellen, ob das kalkulierbar ist.

STANDARD: Wer oder was könnte hineinströmen?

Brok: Es könnte die Lage entstehen, dass Europa dann Zahlungen übernehmen muss, etwa die Gehälter bezahlen muss, damit Griechenland kein "failed state" wird. Das wäre vielleicht teurer als andere Lösungen. Es kann aber auch sein, dass die Chinesen dort hineinströmen, die sich schon für die Häfen interessieren. Bei den Russen glaube ich das nicht, die haben selber kein Geld. Es kann aber vor allem sein, dass ein gescheiterter Staat entsteht. Man muss sehen, was in der Türkei los ist, im Mittleren Osten, und was da sonst noch hineinspielt.

STANDARD: Eine explosive Lage. Würde eine Verschärfung des Flüchtlingsproblems folgen?

Brok: Wenn eine Flüchtlingsproblematik entsteht, dann wird es auch den nächsten Schritt geben. Dann wird die Schengen-Grenze zugemacht, werden wieder Grenzkontrollen eingeführt. Es würde noch mehr Abkoppelung Griechenlands bedeuten. Wenn man sich ein solches isoliertes Land vorstellt, das auch noch pleite ist, so würde sich die Gefahr eines Vakuums erhöhen. All das müssen wir in eine vernünftige Gesamtbeurteilung einbeziehen.

STANDARD: Würde ein Zusammenbruch Griechenlands bedeuten, dass der Krieg in Nahost noch näher an Europa heranrückt, mit der Gefahr, dass das auf den Westbalkan überschwappt?

Brok: Eine gemeinsame Politik gegen extremistische Bewegungen und solche Systeme würde dann von Griechenland nicht mehr mitgetragen. Die Gefährdungen werden größer, weil sie näher an uns heranrücken. Deswegen ist es für die griechische Seite im Moment so wichtig zu erkennen, dass es einen Punkt geben kann, an dem wir sagen: Es geht halt nicht anders. Wir müssen aber sehr darauf achten, dass wir nicht sofort aus Zorn aufgeben. Wir müssen eine Regelung für Griechenland finden. Ich habe den Eindruck, dass die Debatte viel zu sehr allein ökonomisch und finanzpolitisch stattfindet.

STANDARD: Warum wird über sicherheitspolitische Aspekte so wenig geredet?

Brok: Weil wir zunehmend Diskussionen haben, die in Schubladen zugeordnet sind – es fehlt der allgemeine Zugang, der Überblick. Ich weiß, dass wichtige Persönlichkeiten das auch im Kopf haben. Natürlich ist es auch so, dass manches nicht so offen ausgespielt wird, weil man der anderen Seite, der griechischen Regierung, nicht noch mehr Drohpotenzial in die Hand geben will. Aber deshalb sage ich auch nachdrücklich: Die griechische Regierung sollte sich sehr genau vor Augen führen, was ein Zusammenbruch für die eigene Bevölkerung, für das Leben der Menschen, aber auch für das gesamte politische Klima bedeutet.

STANDARD: Die Regierung in Athen spielt offen mit dem Gedanken, dass die EU-Partner sich gar nicht leisten können, das Land fallenzulassen. Was sagen Sie dazu?

Brok: Sie muss sich im Klaren darüber sein, dass dies, bei allen sicherheitspolitischen Bedenken, die ich geäußert habe, sehr wohl der Fall sein kann. Es kann ein Punkt erreicht werden, an dem man sagt: Dann habt Ihr das halt.

STANDARD: Wird nicht auch in Deutschland ein wenig leichtfertig über den Grexit geredet?

Brok: In der öffentlichen Debatte ja. Das ist aber nicht nur in Deutschland so, in Österreich auch. Das ist ja genauso bei TTIP, dem Freihandelsabkommen mit den USA. Da sind die Diskussionen ziemlich gleich. Auch in den Niederlanden, was den Grexit betrifft. Ja, wir haben eine zu starke technische ökonomische Diskussion zu Griechenland. Beurteilungen, die allein auf ökonomischen Zahlen gegründet sind, kommen zu falschen Ergebnissen. Es funktioniert aber auch nicht, wenn nur eine Seite das Gesamtbild sieht und die andere das leugnet und sich ein Erpressungspotenzial schafft. Die griechische Seite muss wissen, dass irgendwann die Grenze erreicht ist und sie dann ins Loch fallen.

STANDARD: Das Thema Griechenland wird auch fast nur bei den Finanzministern diskutiert, kaum bei den Außenministern.

Brok: Es wird auch diskutiert, wenn Griechenland nicht dabei ist. Ich denke aber doch, dass der eine oder andere Finanzminister das europäische Gesamtszenario im Kopf hat. Der deutsche Finanzminister gehört da dazu.

STANDARD: Wie geht es weiter?

Brok: Ich weiß es nicht. Ich bin beunruhigt, wenn ich Aussagen wie zuletzt von Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem höre, dass man die letzten vierzehn Tage verloren hat, weil in Athen nichts geschehen ist. Ich höre von griechischen Freunden, dass die Regierung alles unterschreiben wird, aber dann nichts machen wird.

STANDARD: Das wäre nicht neu, das haben Vorgänger auch schon getan.

Brok: Es wurde von denen schon was gemacht, auch wenn es nicht in dem Ausmaß geschah, wie das erwartet wurde. Die neue Regierung will nicht mal mehr das machen, die wollen die Maßnahmen zurückfahren. Wenn das so wäre, ist irgendwann der Kollaps da, und wir sind dann in einer Begründungsnot gegenüber der eigenen Bevölkerung. Die Leute sagen dann: Ihr hättet doch wissen müssen, dass die euch auf den Arm nehmen. Die griechische Regierung unterschätzt, wo die Grenzen für die Regierungen in Europa sind, diese Spielchen noch mitzuspielen. An dieser Stelle könnten sie überziehen.

STANDARD: In welchem Zeitraum wird sich das entscheiden?

Brok: In den nächsten zwei Monaten.

STANDARD: Was bedeutet das für die Nato?

Brok: Wir hätten dann zwei unsichere Kantonisten in dieser Region als Nato-Mitglieder, das würde dann eine entscheidende Schwächung bedeuten.

STANDARD: Sie meinen neben Griechenland die Türkei? Würden die USA das so einfach hinnehmen, wenn man an Syrien, Israel, die Lage in Nordafrika denkt?

Brok: Es würde eine dramatische Veränderung bedeuten. Man würde auch erst sehen müssen, wie die Türkei darauf reagiert. Es stellt sich sofort die Frage, was das für Zypern bedeutet, für die türkischen Zyprioten, den Streit um die angeblichen Gasvorkommen, die Israel, die Türkei entdeckt zu haben glauben. Wir würden vor fundamentale Fragen gestellt.

STANDARD: Wenn man dazu an die Krise in der Ukraine denkt, die ja geografisch nicht weit weg ist von der Ägäis, dann scheint in der europäischen Außenpolitik gerade ein neues Kapitel aufgeschlagen zu werden. Sind die Europäer darauf vorbereitet?

Brok: Wir müssen uns die Frage stellen, ob es sein kann, dass sich Griechenland vom Westen wegbewegt. Welche strategische Dimension das hat. Deshalb müssen wir uns der Situation stellen, was es bedeutet, wenn es für eine Mitgliedschaft Griechenlands im Euro nicht reicht, damit das nicht ganz abschwirrt. Beide Länder, die Türkei wie Griechenland, sind wichtige Länder für die Durchlieferung von Gas, die uns eine Diversifizierung zu Russland bringen sollen.

STANDARD: Kann es sein, dass wir in einem Jahr ein Horrorszenario haben – dass in der Ukraine der Konflikt sich bis an die Grenzen zu Moldawien und Rumänien ausgebreitet hat und im Süden Griechenland weggebrochen ist?

Brok: Manche sagen, der russische Plan gehe dahin, mit Verzögerung weiterzugehen, über Mariupol an der Schwarzmeerküste entlang bis nach Transnistrien und Moldawien. Dann hätte Russland die Schwarzmeerküste und Teile des Donaudeltas. Wenn die Türkei sich dann neutral und nicht mehr westlich eingebunden verhielte und Griechenland sich durch Russland abgesichert fühlte, dann wäre das eine Zeitenwende. Teile der Syriza-Partei sind übrigens ja nach wie vor hartleibige Kommunisten, mit guten Beziehungen zu Moskau – die stellen sich als Volksbewegung dar.

STANDARD: Schrillen bei Ihnen die Alarmglocken?

Brok: Bei mir zumindest schrillen sie.

STANDARD: Was ist also zu tun?

Brok: Wir müssen das alles im Kopf haben und unsere Politik mit der griechischen Regierung durchführen. Es muss aber deutlich gemacht werden – auch vor der Bevölkerung in Griechenland –, wer verantwortlich ist, wenn es nicht klappen sollte, bei allem guten Willen, der bei den Europartnern da ist. Es muss klar werden, was das alles bedeutet.

STANDARD: Wie soll man das machen?

Brok: Wir müssen diesen Prozess öffentlich machen, auch die Fehlleistungen der griechischen Regierung. Wenn es nötig ist, muss man die Alternativen aufzeigen für die Bevölkerung. Wir müssen bei nüchternen Überlegungen bleiben, dürfen in die Falle der Provokation der Regierung in Athen nicht reinfallen und dann mit Zorn darauf reagieren. Wenn böse Worte über Deutschland kommen, darf man zum Beispiel nicht böse Worte zurückschicken. Das führt nur zu emotionalen Reaktionen dort. Daher: Wir müssen einen nüchternen, aber auch harten Verhandlungsprozess durchführen, der Bevölkerung zu erkennen geben, welche Konsequenzen es hat nach dem Ende der emotionalen Aufregungen.

STANDARD: Gibt es eine Person in der Regierung, auf die man bauen kann? Ist das Premierminister Tsipras?

Brok: Wenn Tsipras den Mut hat, das zu machen, mit seinen eigenen Leuten, stellt sich die Frage, ob man sie nicht mit einem Teil von Pasok, den Sozialdemokraten, wieder zusammenführt. Diese Diskussion findet schon statt.

STANDARD: Also Syriza als Kern einer neuen breiten sozialdemokratischen Partei?

Brok: Ja, das müssen nur noch die europäischen Sozialdemokraten kapieren.

STANDARD: Wie geht es in der Ukraine weiter?

Brok: Das ist das Gleiche. Wir versuchen, das Abkommen von Minsk zu halten, wissen aber nicht, wie weit Putin geht. Wir müssen sehr viel mehr Geld in die Hand nehmen und Druck ausüben, mit den Hilfen schneller sein. Es müssen dort, wo die Regierung in Kiew Einfluss hat, Reformen umgesetzt werden. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie muss zum Durchbruch verholfen werden, es muss eine wirtschaftliche Perspektive vorhanden sein, damit die Bevölkerung nicht das Gefühl hat, sie würde in ein wirtschaftliches Loch fallen.

STANDARD: Wer soll in der Ukraine investieren, wenn gekämpft wird?

Brok: Das ist ja der Wille des russischen Präsidenten Putin, diese Unruhe zu haben, genau diesen Effekt zu erreichen. Aber man kann dafür Sorge tragen, dass die Strukturveränderungen staatlicherseits schneller gemacht werden, dass in den Kommunen geholfen wird, Projekte zu machen. Im Oktober sind Kommunalwahlen, bis dahin müssen die Reformkräfte etwas vorzuzeigen haben. Das ist auch eine Aufforderung an die Europäische Union, mit ihren Strukturhilfen etwas zu bewirken, nicht wieder zwei Jahre zu warten, bis etwas geprüft ist.

STANDARD: Vor mehr als einem Jahr, im November 2013, ist beim EU-Ostgipfel in Vilnius der Assoziationsvertrag der EU mit der Ukraine gescheitert. Seither hat sich die Lage verschlechtert, vom Maidan über die Krim-Annexion bis zum Krieg in der Ostukraine. Wo werden wir in einem Jahr stehen?

Brok: Wir sind nach Vilnius zweimal überrascht worden. Als wir in der litauischen Hauptstadt zusammensaßen, haben wir nicht gedacht, dass zwei Tage später die Massendemonstrationen auf dem Maidan beginnen. Wir dachten, es werde einen fließenden Prozess geben mit Präsident Janukowitsch Richtung Moskau. Wir haben nicht gesehen, dass ein Volk dagegen aufsteht, wodurch für uns eine Verpflichtung entsteht. Die zweite Überraschung war noch größer. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass im 21. Jahrhundert Russland in dieser Frage Militär über die Grenzen gehen lässt. Das waren eine positive und eine negative Überraschung. Wir haben die Pflicht, uns auf die positive Seite zu stellen, von Menschen, die die Freiheit wollen. Ich sehe heute eine stärkere Verpflichtung, der Ukraine zu helfen, als ich das noch in Vilnius gesehen habe.

STANDARD: Das heißt aber, die Konfrontation mit Russland könnte noch viel härter werden?

Brok: Es geht um den Anspruch einer Regierung, zu beherrschen – durch direkte Einverleibung eines Staatsgebiets – oder sich auch eine Einflusszone zu schaffen. Zum Zweiten findet eine neue große ideologische Auseinandersetzung statt. Bis 1989 gab es das mit dem Kommunismus, heute geht es um einen sakralen Fundamentalismus, die guten russischen christlichen Werte gegen den dekadenten Westen. Diesen Ball haben wir noch nicht aufgenommen. Das ist ein sicherheitspolitisches Thema. Wir sagen nicht, dass unser Wirtschaftssystem das Bessere ist. Wir sagen nicht, dass parlamentarische Demokratie, Toleranz, Unabhängigkeit der Rechtsprechung und Ähnliches, dass das viel größere Werte sind und die christlichen Werte schon eingebunden sein müssen, aber nicht in einer Gegnerschaft zur liberalen Demokratie stehen. Das ist eine neue große Auseinandersetzung, die zu führen ist. Wir haben plötzlich wieder eine Systemdiskussion. Wir dachten vor 25 Jahren, die Systemfrage sei entschieden. So ist es eben nicht.

STANDARD: Es geht dabei aber doch auch um die soziale Frage – kommt die nicht zu kurz?

Brok: Das ist auch in Griechenland oder Spanien so. Kommissionspräsident Juncker hat das Gott sei Dank erkannt. In manchen Wirtschaftsteilen in deutschen Zeitungen wird nicht erkannt, dass bestimmte Wirtschaftsformen nur gemacht werden können, wenn sie sozial tragen, wenn die Bevölkerung mitmacht. Man muss eine soziale Balance haben und darf nicht übertreiben, auch wenn Dinge ökonomisch sinnvoll sein mögen. Die soziale Frage taucht nun wieder auf. Nutznießer dieser neuen sozialen Frage sind alte kommunistische Kader, das ist in Griechenland so und auch in Spanien bei Podemos. In anderen Ländern sind es die Rechten, Le Pen, die FPÖ oder die AfD in Deutschland.

STANDARD: Da schlummert vieles – wie erklären Sie sich deren Faible für Putin?

Brok: Es gibt diese konservativen Kreise, nicht nur in Griechenland oder Spanien, die immer schon Misstrauen hatten gegen die Parteiendemokratie. Die sind immer schon für einen starken Führer gewesen, der ruhig auch ein bisschen Dreck am Stecken haben darf, Hauptsache, er führt das Land klar. Da geht es um so ein Grundgefühl, diese Stammtischgeschichte. Und da fällt dieser Putin, der klare Kante zeigt, rein. Das ist ein ganz gefährlicher gesellschaftlicher Prozess, den wir da haben. Und die benutzen dann auch noch dieses schreckliche Wort, das wir aus den 1930er-Jahren kennen, von den "Alt- und Systemparteien". Das ist derselbe Begriff, den die Faschisten verwendet hatten. Das ist der Begriff von Joseph Goebbels.

STANDARD: Was bedeutet das für die Europäische Union?

Brok: Wir müssen für uns selbst die Wertedebatte, die Systemdebatte wieder aufnehmen, um dieser Konfrontation zu begegnen. Wir führen nur den staatlichen Streit, aber nicht den Systemstreit. (Thomas Mayer, derStandard.at, 16.3.2015)