Was sei davon zu halten, dass nun bald auch höhere Stände Steuern zu zahlen hätten, fragt man sich bei Familie Vogel in Jessica Hausners historischem Filmkammerspiel Amour fou. Warum sollte sich jemand über das Ende der Leibeigenschaft freuen?
Die Antwort darauf ist gar nicht so schwierig: Nur ein am Gemeinwesen partizipierendes Subjekt vermag sich als Staatsbürger zu begreifen. Selbst die Todessehnsucht von Heinrich von Kleist erscheint in diesem Lichte als pervertierter Ausdruck von Individualisierung - schließlich wurde die Liebe erst mit der Entstehung des Bürgertums zu einem Wert.
Das andere, vorläufige Ende dieser Entwicklung behandelt David Foster Wallaces unvollendet gebliebener Roman Der bleiche König (Kiepenheuer & Witsch), der in der Parallelwelt einer Außenstelle der US-Steuerbehörde IRS in Peoria im Mittleren Westen angesiedelt ist. Der 2008 aus dem Leben geschiedene Autor hatte mit diesem Großwerk die Grundverfasstheit der US-Gesellschaft im Blick, die sich 1985 an einem Scheideweg befindet.
Wie der Steuerzahler heute tickt, darüber beginnen die Köpfe der Steuerermittler zu rauchen: Fühlt sich der Bürger noch als Teil eines integrativen Ganzen, übernimmt er zivile Verantwortung? Oder ist man am Ende eines Individualisierungsprozesses angelangt, wo das Staatswesen nur noch als Abzocker erscheint, der einem das hart erarbeitete Geld stehlen will?
Die Steuerpolitik Ronald Reagans liefert den Nährboden für diese Reflexionen. Seine unternehmerfreundliche Schlagseite wusste dieser mit einem medienwirksamen Cowboy-Image zu kaschieren: "Go ahead. Make my day", mit dem Dirty-Harry-Zitat trat er Plänen zur Steuererhöhung entgegen. Reagans Beharren auf der Trickle-Down-Theorie, sein Glaube, dass sich mit der Senkung der Spitzensteuersätze Investitionen ankurbeln lassen, stößt bei den altgedienten Bürokraten in Der bleiche König auf Widerstand. Eine Voodoo-Wirtschaftslehre sei das, die am Ende einer Entwicklung steht, die das Gemeinwesen aushöhlt. "Meiner Meinung nach sind die Amerikaner 1980 verrückt. Einfach verrückt geworden." Dennoch ist die Ideologie auch ins IRS eingesickert.
Die Folgen dieser Politik sind bis heute spürbar - in Wallaces Roman kann man sie forensisch zurückverfolgen. In einem als Streitgespräch angelegten Kapitel widmet er sich dem Zusammenhang von Bürgersinn und Egoismus. Erst die Aufbruchsbewegungen der 1960er-Jahre, heißt es da, hätten den Prozess der Individualisierung vollendet. Doch statt den Rechten wuchsen seitdem eher die Ansprüche, statt mehr Freiheiten gibt es größere Märkte. Die Unternehmen haben den Braten gerochen. Individualismus wird als Konsumartikel verkauft: "... flächendeckende PR-Kampagnen, die das Individuum rühmen und preisen, werden riesige Märkte für Menschen formen ..."
Dass es so wenig Aufsehen erregt hat, Steuerdirektiven durchzusetzen, die auch das von Reagan verursachte Defizit ausgleichen sollten, lag laut Wallace an der Stumpfsinnigkeit, mit der sich niemand lange aufhalten wollte. Das effizientere Mittel als Geheimhaltung: todlangweilig statt total verdächtig. Es gibt schließlich Spannenderes. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch irgendjemand ernsthaft glaubt, in unserer ,Informationsgesellschaft' ginge es um Informationen." (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 14.3.2015)