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Tschechische Pensionisten 2012 bei einem Protest gegen Pensionskürzungen. Viele wünschen sich einen besseren Sozialstaat, trauen der Regierung aber nicht zu, ihn zu verwalten.

Foto: Reuters / DAVID W CERNY

Semmeln kann man am Sonntag in Prag problemlos kaufen, Bücher, Kleidung und Computer auch. Wo noch bis Ende der 1980er-Jahre Planwirtschaft herrschte, lockt seit den 1990ern der Konsum. Viele Geschäfte haben an 365 Tagen im Jahr geöffnet, manche sogar 24 Stunden pro Tag.

Dennoch haben viele Tschechen nur beschränkten Zutritt zur Welt der Waren. Prag gilt zwar, kaufkraftbereinigt, als eine der reichsten Städte Europas – in den strukturschwachen ländlichen Regionen ist die Lage dafür oft umso trister. Hier sind die Gehälter niedriger, die kommunistische Kollektivierung der Landwirtschaft hat tiefe Narben hinterlassen, für Infrastrukturprojekte fehlen häufig die Mittel.

"Die meisten Tschechen hätten ganz und gar nichts gegen mehr Umverteilung", meint der Politologe Jan Bures von der Metropolitní Univerzita Praha. "Sie trauen aber dem Staat nicht zu, die Steuern effizient einzuheben – und dann auch korrekt einzusetzen."

Geld bleibt am besten gleich "bei den Leuten"

Der politische Wille, die vergleichsweise niedrigen Einkommens- und Gewinnsteuern im öffentlichen Interesse zu erhöhen, sei daher nur schwach ausgeprägt, erklärt Bures und skizziert damit den Teufelskreis aus Korruption und mangelnder Steuermoral: Geld, das ohnehin in privaten Taschen verschwinden würde, bleibt am besten gleich bei "den Leuten". Dass es dann für die Finanzierung von Sozialleistungen, für Beamtengehälter oder im Gesundheitswesen fehlt, erscheint lediglich als weiterer Beweis für die Misswirtschaft im Land.

Für Bures ist das mit ein Grund für den Höhenflug der Partei Ano, die 2013 mit dem Versprechen antrat, die Korruption zu bekämpfen und Steuern konsequent einzutreiben, anstatt sie zu erhöhen. Ano schaffte bei der Wahl auf Anhieb Platz zwei und ist heute zweitstärkste Regierungspartei. Ihr Vorsitzender, der milliardenschwere Agrar- und Medienunternehmer Andrej Babis, wurde Vizepremier und Finanzminister.

Neue Verteilungsdebatte

Es mag kurios anmuten, dass ausgerechnet Babis die neue Regierung des sozialdemokratischen Premiers Bohuslav Sobotka am Leben erhält. Doch beide repräsentierten 2013 die Wechselstimmung im Land: Nach sieben Jahren Sparpolitik durch konservative Regierungen war die Gesellschaft offen für eine neue Verteilungsdebatte. Der neoliberale Diskurs, der sozialpolitische Maßnahmen westeuropäischen Zuschnitts oft als Relikte aus kommunistischer Zeit darstellte, war aus der Mode gekommen. Davon profitierte der Sozialdemokrat Sobotka. Dem Milliardär Babis, der als Garant gegen Steuererhöhungen auftrat, nützte wiederum die Skepsis hinsichtlich der treffsicheren Finanzierung von Transferleistungen.

Der Konflikt ist programmiert: Die gemeinsam vereinbarte Abschaffung der Praxisgebühren beim Arzt, die gerade die Ärmsten entlastete, hat Umfragekaiser Babis bereits öffentlich bedauert. (Gerald Schubert, DER STANDARD, 14.3.2015)