"Gesundheitsbezogene Maßnahme" statt Haft: Richterinnen und Richter in Wien ordnen dies häufig an - oft lässt aber die Qualität der Entzugstherapien zu wünschen übrig, sagt eine aktuelle Studie.

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Wien - Richterinnen und Richter in Wien sind grundsätzlich offen und bereit, Delinquenten mit Suchtproblemen zu "Therapie statt Strafe" zu verurteilen. So weit die gute Nachricht. Die weniger gute: Sie setzen diese Maßnahme oft zu spät - 80 Prozent der so Verurteilten haben bereits ein beachtliches Vorstrafenregister. Und: Die Qualität der Therapie lässt oft zu wünschen übrig, es gibt keine einheitlichen Standards. Dazu kommen mangelhafte Gutachten, auf die sich die Richterschaft stützen muss.

96 Interviews

Das ist das Ergebnis einer Evaluierungsstudie, die am Wochenende bei einem interdisziplinären Symposium zu Suchterkrankungen am Grundlsee in der Steiermark präsentiert wurde. Die klinische Psychologin Laura Brandt und die Psychiaterin und Suchtexpertin Gabriele Fischer zeichnen für die 2014 fertiggestellte Studie verantwortlich, 96 Personen in "gesundheitsbezogenen Maßnahmen" (GBM, der Fachbegriff für "Therapie statt Strafe") haben Brandt und ihr Team dafür in persönlichen, strukturierten Interviews befragt sowie die Daten von 228 Inhaftierten erhoben.

Substanzkonsumstörungen sind die fünfthäufigsten (und fünftteuersten) psychiatrischen Erkrankungen in der EU. Es gibt eine enge Beziehung zwischen Abhängigkeit und kriminellem Verhalten. Über 50 Prozent aller Insassen in Europas Gefängnissen sind drogenabhängig.

Opiatersatztherapie in Haft

Vergleichsweise gering die Therapieangebote: Nur in 19 EU-Ländern ist in Gefängnissen die sogenannte Opiatersatztherapie (OET, "Methadonprogramm") möglich. Österreich sei hier "vorbildhaft", sagt Fischer zum STANDARD. Hierzulande sind Methadon und verwandte Ersatzstoffe in allen Gefängnissen verfügbar. Aber man müsse zur Kenntnis nehmen, dass auch Suchtmittel in Gefängnissen erhältlich seien: "Wir brauchen ein Nadelaustauschprogramm, um das Hepatitis-Infektionsrisiko zu senken", sagt Fischer.

Klar wurde bei der Untersuchung auch, dass Richter "Therapie statt Strafe" nur bei kleineren Delikten verhängen. Möglich ist auch, nach gelungener Therapie, die Haft in eine bedingte Strafe umzuwandeln. Sie stützen sich dabei auf psychiatrische oder psychologische Gutachten - und hier gebe es noch viel zu verbessern, sagt Fischer. So sei etwa in einem Urteil zu lesen, der Verurteilte müsse einen Methadonentzug machen. Fischer: "Das wäre, als würden Sie einem Diabeteskranken das Insulin verbieten und ihn täglich zehn Kilometer mit dem Rad fahren lassen."

Schriftliche Standards sollen kommen

Viele Sichtweisen seien veraltet. Wird Therapie verordnet, geschieht diese zumeist in Vereinen, die dem Recht der jeweiligen Bundesländer unterliegen - und sich obendrein selbst evaluieren. Fischer: "Wir brauchen einheitliche Standards, damit die Therapien auch State of the Art sind."

Michael Schwanda, für den Strafvollzug zuständiger Sektionschef im Justizministerium, kündigt die Schaffung schriftlicher Standards für den Umgang mit Suchtkranken in Haft an. Auch die Richterausbildung soll, als ein Ergebnis der Reformankündigungen im Maßnahmenvollzug, verbessert werden.

Der Strafrechtler Alois Birklbauer sieht ein weiteres Problem: Während Richter und Staatsanwalt bei den substanzbezogenen Süchten Spielraum haben, um etwa Therapie zu "verordnen", sei dies bei Verhaltenssüchten (Kaufsucht, Spielsucht, Onlinesucht) gar nicht möglich. Auch hier stehe kriminelles Verhalten in Zusammenhang mit der Sucht. Birklbauer: "Darüber wissen wir noch viel zu wenig, und oft sind uns auch die Hände gebunden." (Petra Stuiber, DER STANDARD, 11.3.2015)