In der Griechenland-Debatte wird gern auf die ach so erfolgreichen Reformen Gerhard Schröders verwiesen. Zuletzt von Eric Frey, der behauptete, der "Dritte Weg" sei die einzige Option der Sozialdemokratie ("Tony Blairs später Triumph", der STANDARD vom 26. 2. 2015).

Leider fällt Frey hier noch Jahre nach ihrer Erfindung auf Blairs Marketingstrategie herein, denn diesen "Dritten Weg" gab es nie, sondern nur jenen, den die Sozialdemokratie nach 1945 erfolgreich beschritt (die Konservativen mit ihnen): soziale Marktwirtschaft mit sozialdemokratischer Prägung zwischen stalinistisch-kommunistischer Kommandowirtschaft und ungezügeltem Markt.

Bibel des "Dritten Wegs"

Da musste nichts neu erfunden werden. Entsprechend ist 1999 das Schröder-Blair-Papier ausgefallen, die Bibel des "Dritten Wegs": trivial und extrem widersprüchlich. Der "Dritte Weg" als Anerkennung marktextremistischer Dogmen, als Kapitulationserklärung und Liquidierung eines bereits existierenden "Dritten Wegs".

Verbal beschwor man sozialdemokratische Werte, während das Papier bloß den politischen Kniefall vor den religiösen Mantren der Marktextremisten festschrieb: Man habe den Sozialstaat überfordert; die Versuche, das Marktversagen zu korrigieren, seien zu weit gegangen; zu hohe Sozialleistungen hätten die Arbeitskraft zu teuer gemacht. Man verabschiedete die Instrumente sozialdemokratischer Politik, ohne neue anzubieten.

Doktor im Krankenbett

Die Sozialdemokratie nicht als Doktor am Krankenbett des Kapitalismus, sondern als Behübscher, der - statt zu heilen - sich zum Patienten ins Bett legt. Die ökonomischen Rahmenbedingungen werden als Naturgesetze akzeptiert. Kein Wort davon, dass sie von Menschen ersonnen und durchgesetzt worden sind.

Man preist die totale Flexibilität der Arbeitskraft - der Mensch zählt nichts. Wissenschaft wird nur unter dem Aspekt wirtschaftlichen Nutzens gesehen; Einführung eines Niedriglohnsektors unter Ausblendung der sozialen Folgen. Ergebnis: Die Hartz-IV-induzierten Niedriglöhne verschlechterten nicht nur die soziale Lage der "Modernisierungsverlierer", sondern konkurrierten die südlichen Länder Europas. Eine Konkurrenz, die der Süden nicht gewinnen konnte.

Armutsrekorde ...

Der scheinbare wirtschaftliche Erfolg ist aber selbst in Deutschland nur bei wenigen angekommen. Der dortige Paritätische Wohlfahrtsverband konstatierte soeben, dass die Armut im Land neue Rekorde verzeichne: 12,5 Millionen Arme. Wesentlich daran beteiligt: der "Dritte Weg" Schröders mit viel zu geringen Hartz-IV-Sätzen und mangelhafter Altersgrundsicherung. Genau jene Medizin, die man ganz Europa verordnet. "Dritter Weg" und Marktextremismus latschen hintereinander durch den Sumpf und wundern sich, dass wir immer tiefer versinken.

Der Sündenfall erfolgte schon früher dank marktextremistischer Anwendung der "vier Freiheiten" der Europäischen Union, die nicht nur nach Mao-Bibel klingen, sondern auch ebenso dogmatisch sind. Der Marktextremismus ist eine totalitäre Ideologie, die sich wie stinkender Käse durch die EU zieht.

Die Maastrichtkriterien, in Zahlen gegossene Ideologie, wurden 1992 beschlossen, als die Sozialdemokratie in Europa die große Mehrheit der Regierungen stellte. Die Sozialdemokratie hatte die "neoliberalen" Dogmen verinnerlicht. Die Sozialdemokratie war zur Partei der kleineren Dosis mutiert, idente Medizin in kleineren Mengen. Die Sozialdemokratie als Kurpfuscher unter anderen Kurpfuschern: Sozialabbau ein bisserl weniger brutal; Deregulieren ein bisserl langsamer. (Dass in Österreich vieles nach Deregulierung lechzt, weil selbige politisch selektiv gegen die ungeschützten Sektoren eingesetzt wurde, ist eine andere Sache!)

... als Armutszeugnis

Die Folgen sind europaweit zu besichtigen. Neue Armut, Massenarbeitslosigkeit, Erosion des Mittelstands. Heute stehen in Deutschland (in Österreich ist es ähnlich) 26 Millionen Steuerzahlern bereits 28,5 Millionen "Transferleistungsempfänger" gegenüber. Das ist ein Armutszeugnis im Wortsinn: In den reichsten Ländern der Welt steht nicht genug Arbeitseinkommen für die auf ihre Arbeitskraft Angewiesenen zur Verfügung. Der Vermögenszuwachs der Volkswirtschaften ist bei der breiten Masse nicht angekommen.

Eine weitere Konsequenz dieses "Dritten Wegs" ist die Zerstörung der Sozialdemokratie. Die SPD hat sich bis heute nicht von Schröder erholt. Solange ihr keine ernsthafte Abkehr von Hartz IV gelingt, ist das auch nicht zu erwarten. Die SPÖ lebt nur noch in der Kanzler-Illusion. Inhaltlich ist ihr bloß die ärmliche "Millionärssteuer" eingefallen. Der Versuch, ihm ein menschliches Antlitz zu geben, ist beim Marktextremismus ebenso gescheitert wie beim "Realsozialismus".

Die europäische Linke steht nach dem Eintreten der ewig vorhergesagten "großen" Krise ohne praktisch einsetzbare Theorie da. Traurig, aber kein Grund, auf die Chimäre eines moralisch und politisch desavouierten "Dritten Wegs" zu rekurrieren. Denn der war nur eine Blase. Die entstehen im Kapitalismus immer dann, wenn alle in dieselbe Richtung laufen. Man nennt das ein Marktungleichgewicht. Genau ein solches haben wir derzeit bei den Lösungsmethoden der immer noch mehr als nur schwelenden Krise.

Wir brauchen neue Medikamente, diesmal evidenzbasierte, wenn's geht! (Michael Amon, DER STANDARD, 9.3.2015)