So kometenhaft Pegida am deutschen Himmel aufgetaucht ist, so kometenhaft ist die Bewegung verglüht - beim Eintritt in die Sphäre der Realpolitik. Wer die Islamdebatten in den letzten Jahren verfolgt hat, musste sich sowieso wundern: Die Meinungen, die Pegida vor sich hergetragen hat, sind doch längst bekannt, genauso wie die Ängste vor einer angeblichen Islamisierung, vor Flüchtlingsströmen, vor Terrorismus und einem Missbrauch der Sozialsysteme.

Alles das konnten wir schon in den Büchern von Thilo Sarrazin und vielen anderen lesen. Jeder Buchhändler kann ein Lied davon singen, welches Geschäft die Kritik am Islam geworden ist. Doch zwischen Pegida und diesen Autoren gibt es keinen Unterschied, außer dass die einen bei Regen und Schnee auf die Straße gehen, während die anderen in der warmen Stube ihre Bücher schreiben.

Früher hätte man die bücherschreibenden Islamkritiker Schreibtischtäter genannt, und ich muss gestehen: Im Zweifelsfall sind mir die Demonstranten sympathischer als die, die ihre Fremdenfeindlichkeit hinter der Maske des Bildungsbürgertums verbergen.

Wenn man sich wirklich gegen Pegida abgrenzen will, muss man sich auch gegen ihre Vordenker abgrenzen. Und zwar nicht nur gegen sie als Personen, sondern vor allem gegen die Ideen, die sie propagieren, gegen die Art und Weise, wie von oben herab und voller Vorurteile über Muslime und andere Fremde gesprochen wird.

Um einen harten, aber nötigen Vergleich zu bringen: Nicht die Nazis haben den Judenhass der Dreißiger- und Vierzigerjahre erfunden, sondern es waren die Vordenker des Antisemitismus in den Zwanzigerjahren, ja schon vor dem Ersten Weltkrieg. Hitler und die Nazis brauchten gar nicht selber zu denken. Sie mussten die Ideen der Antisemiten nur noch auf die Straße tragen.

Pegida hat etwas Ähnliches versucht: nämlich die Ideen der sogenannten Islamkritik auf die Straße zu tragen. Erst da hat es bei unseren Politikern und bei den Medien geklingelt: als wären Rassismus oder Antisemitismus erst dann gefährlich, wenn die Leute damit auf die Straße gehen, während dasselbe in Büchern oder Talkshows als Teil des "normalen" Meinungsspektrums durchgeht.

Aber ist Islamkritik gleich Rassismus? Darf man denn den Islam nicht kritisieren? Natürlich darf man. Man soll sogar! Aber die Wahrheit ist doch: Der Islam steht ständig und von allen Seiten in der Kritik, nicht zuletzt von Muslimen selbst. Man sieht es schon daran, dass sie sich in vielen arabischen Ländern selbst bekämpfen.

Dass die islamische Welt in einer Krise ist, weiß jeder, der die Nachrichten anschaltet. Darauf hinzuweisen ist so banal, wie einem, der offensichtlich unter einer Krankheit leidet, zu sagen: Hey, schäm dich, du bist ja krank!

Das stört an der Islamkritik: Sie rechnet dem Kranken seine Krankheit vor, sagt ihm, er sei selbst schuld, und bietet ihm als Allheilmittel an: "Lieber Muslim, du musst nur deiner Religion abschwören, dann wird alles gut!" Dabei kommt sie sich auch noch überlegen und "aufgeklärt" vor.

Das ist nichts als Quacksalberei. Wir müssen uns vor der Illusion hüten, es gebe einfache Lösungen für komplexe Probleme. Die Krise des Islams heute hat eine Vorgeschichte, an der wir Anteil haben.

Das heißt nicht, dass nun der Westen an allem schuld ist. Sondern es heißt, dass wir mit der islamischen Welt und den Muslimen viel enger verknüpft sind, als uns vielleicht lieb ist - wie zwei aneinander angeseilte Bergsteiger an der Eigernordwand der Geschichte. Man kann die beiden nicht künstlich trennen oder die Schuld immer nur einem geben.

Sich mit dem Islam produktiv auseinanderzusetzen, statt mit dem Finger auf ihn zu zeigen, das wäre die Aufgabe, die jetzt ansteht. Dafür brauchen wir Hochleistungsmedizin statt islamkritische Wunderheiler. (Stefan Weidner, DER STANDARD, 7.3.2015)