Glückliche Sibylle Berg: "Im Sommer inszeniere ich das erste Mal. Es wird Frühling, und wenn ich morgen nach Hause komme, gibt es Nudeln mit Tofu."

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Paarbeziehung ist manchmal kein Zuckerschlecken: "Viele bauen sich Gerüste, beginnen Sadomaso-Entfremdungspraktiken, gehen fremd, trennen sich oder verzichten einfach auf die wilde Leidenschaft zugunsten der tiefen Liebe ..."

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STANDARD: Frau Berg, Sie haben einen schonungslosen Roman über eine Langzeitbeziehung geschrieben, in dem viel über Langzeitbeziehungen, Sex und Älterwerden nachgedacht wird. Ist Sex nach zehn, zwanzig Jahren Beziehung, in denen man sich beim Älterwerden gegenseitig zuschaut, überhaupt noch möglich?

Sibylle Berg: Vermutlich. Aber wozu? Bei meinen umfangreichen, ich möchte fast sagen streng wissenschaftlichen Studien fand ich wenige, die in einer festen Beziehung nach zehn Jahren noch glücklich mit ihrem Geschlechtsleben waren. Also miteinander. Viele bauen sich Gerüste, beginnen Sadomaso-Entfremdungspraktiken, gehen fremd, trennen sich darum oder verzichten einfach auf die wilde Leidenschaft zugunsten der tiefen Liebe, was ich als die eher annehmbare Variante erachte. Aber mich fragt ja meistens keiner.

STANDARD: Der Roman wechselt zwischen der Perspektive einer Frau und der eines Mannes, die getrennt voneinander und ganz unterschiedlich über gemeinsam Erlebtes erzählen. Wie war das beim Schreiben? Wie viel Spaß haben Sie an den Klischees über Geschlechterdifferenz? Und haben die am Ende ihre Richtigkeit?

Berg: Eigentlich gehe ich in meiner Arbeit immer sehr bewusst gegen Genderstereotype an, hier habe ich versucht, die Frau zu einer gescheiterten, verkannten Regisseurin zu machen, das ging aber irgendwie in die Hose. Die Art reizender Verzweiflung, die die männliche Hauptfigur zeigt, war mir unglaubwürdig bei einer Frau. Ich weiß im Moment nicht mehr, ob es die gerechte Welt, an die ich gerne glauben würde, jemals geben wird. Der Feminismus hat als Bewegung versagt. Es ist den Frauen nicht gelungen, ein klares Ziel zu formulieren, außer dem, dass wir irgendwie etwas ändern wollen. Eine Geschlossenheit gibt es schon gar nicht. Die sozialen Netzwerke zeigen das, da gibt es noch nicht einmal eine klare Definition, was Feminismus will und was er ist. Vielleicht sind viele Frauen froh, sich weiter in Klischees aufzuhalten. Das denke ich mir, wenn ich Angriffe von weiblicher Seite auf alle feministischen Themen lese. Vielleicht ist die Welt zufrieden in einem wunderbaren neuen Patriarchat.

STANDARD: Sie haben schon in Ihrem vorletzten Roman, "Der Mann schläft", die Vorzüge einer weitgehend leidenschaftslosen Liebesbeziehung ganz wunderbar beschrieben. Liebe als Entscheidung. Warum interessiert Sie dieses Thema?

Berg: Die meisten meiner nun, ich glaube, insgesamt 15 Bücher verhandeln unsere Zeit, die Welt, das große Ganze, das Elend mit Humor usw. Ab und zu brauche ich einen erholenden Ausflug in die kleine Weltzelle: das Paar. Beziehungen sind ja überdies das, was uns alle - neben der Arbeit - am meisten beschäftigt: Paarwerdung, Paarauflösung, Paarprobleme. Es denken ja die meisten nicht ununterbrochen an die Ukraine-Krise, den IS-Terror oder die Euroabwertung.

STANDARD: Chloe, die Protagonistin Ihres Buches, auch nicht immer. Sie ist trotzdem eine überaus intelligente Frau, die es sich aber über die Jahre an der Seite ihres Mannes recht bequem eingerichtet hat. Sie und Rasmus, ein Regisseur, dessen aufsteigender Stern schnell wieder verglüht ist, durchlaufen über 20 Jahre sehr prototypisch und mit hohem Wiedererkennungswert viele Stationen von Paaren aus westlichen Wohlstandsgesellschaften: Verliebtheit, Entscheidung für die Beziehung, Karriereschritte, Eigentumserwerb, Scheitern von Vorstellungen, Flucht in Konsum, Therapien und Rauschmittel, gegenseitiger Betrug etc. Wohin geht die Reise für die meisten Paare?

Berg: Da gibt es wohl keine Gesetze. Bei vielen bringen Kinder eine eigne Dynamik ins Geschehen. Die Hälfte aller Paare trennt sich, und jene, die durchhalten, tun das aus den verschiedensten Gründen, von denen oft Gewohnheit ein wichtiger ist. Liebe. Sich-aneinander-gewöhnt-Haben. Freundschaft.

STANDARD: Gewohnheit, Liebe und Freundschaft. Das klingt alles sehr positiv. Dann müssten doch Langzeitbeziehungen viel besser ausschauen?

Berg: Sie sind ja oft auch nicht schlecht, diese langen Beziehungen, wäre da nicht die eingebaute Maßlosigkeit im menschlichen Charakter. Wir haben den Kapitalismus verinnerlicht, der uns vormacht, alles haben zu können. Im Moment. Eine gute lange Freundschaft zu einem Partner und die Aufregung einer neuen Liebe. Je undurchschaubarer die Zeit wird, in der wir leben, mit all den Konflikten, die über ein Menschenhirn hinausreichen, umso mehr wollen wir doch Regisseure und Regisseurinnen unseres Schicksals werden. Nicht sitzen, warten, behaglich sein, sondern wir wollen eine Filmwelt, die wir gestalten können.

STANDARD: Sind kinderlose Paare, wie Chloe und Rasmus, mehr auf sich selbst zurückgeworfen als Paare mit Kindern?

Berg: Weniger abgelenkt trifft es auch.

STANDARD: Warum sind die Menschen und die Gesellschaft so stark auf Paarbeziehungen fokussiert?

Berg: Weil sich die meisten anderen Formen des Zusammenlebens nicht besonders bewährt haben. Ich habe viele Experimente von Gruppen beobachtet, die meist aus den Gründen schiefgehen, aus denen das Zusammenleben von Menschen meist misslingt - Egoismus, Eifersucht, Neid etc. Alleinsein ist nur eine Option für wenige. Denn die meisten wünschen sich einen Freund, der mit ihnen gegen die Welt steht.

STANDARD: Sehr früh im Roman fällt der Satz: "Warum nur müssen wir ficken, als ob wir Fremde wären." Warum schafft Sex eine solche eigenartige Entfremdung zwischen Menschen? Wo man meinen könnte, er bewirke eher das Gegenteil ...

Berg: Ich vermute, es gibt da Unterschiede, was die Intensität von Sex angeht. Ich hörte, auch freundlicher, warmer Sex unter lange Verbundenen sei sehr schön, aber sehr oft sehnen sich die Menschen nach dem gefährlichen Reiz des Unbekannten und damit nach dem Gefühl, wild und unendlich zu sein - kurz nach einem Neubeginn.

STANDARD: Wo redet man weniger gern über Sex: in Deutschland, wo Sie geboren sind, oder in der Schweiz, wo Sie jetzt seit vielen Jahren leben?

Berg: Ich habe in beiden Ländern die Erfahrung gemacht und das Gefühl bekommen, dass die Menschen unglaublich gerne über Sex berichten, wenn man sie nur danach fragt.

STANDARD: Sie sprachen zu Beginn von umfangreichen Studien. Wie recherchieren Sie für Ihre Bücher?

Berg: Viel lesen, viel im Netz sein, viele Filme sehen, viel mit Menschen reden oder sie beobachten. Und das Material so lange verdichten, bis es reif ist.

STANDARD: Normalerweise ist es ja umgekehrt, aber in Ihrem neuen Roman "Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand" stellt der "wahrscheinlich beste Sex" in Chloes Leben mit einem jungen Mann alles infrage. Warum hat Geschlechtsverkehr eine solche Wucht?

Berg: Es ist vermutlich immer der beste Sex der Welt, wenn man hormonell außer Kontrolle ist. Wie oft haben die meisten schon, in einer neuen Liebesbeziehung gedacht: Wir sind wie füreinan- der gemacht. Es passt perfekt. Nie war einer/eine so schön. Habe ich so tief empfunden. Es sind Hormone. Und deren erwiesener Drogeneffekt.

STANDARD: Ist die Kombination aus älter werdender Frau und jungem Mann noch immer stärker tabuisiert als die umgekehrte Variante? Oder nicht mehr?

Berg: Wenn man den Klatschblättern und dem Klatschfernsehen glauben mag, dann ja. Im Alltag denke ich nicht, dass es noch so ein großes Thema ist. Vor allem, da man weiß, dass ältere Männer nicht mehr den genetisch bestausgerüsteten Nachwuchs erzeugen, ist die Verbindung deutlich älterer Mann / junge Freundin etwas alberner geworden als die andere Variante. Zumindest in der westlichen Welt werden Vorurteile sehr langsam, aber immerhin besser - und wenn sich Menschen mögen, sollte es den anderen doch, wie so vieles, vollkommen egal sein.

STANDARD: "Paare in Scheidung werden gemieden", schreiben Sie, "als hätten sie eine ansteckende Krankheit." Wann ist eine Scheidung unausweichlich?

Berg: Scheidung meint eigentlich generell Trennungen, denn es macht wenig Unterschied, ob man einen Trauschein hat oder nicht. Ich glaube, eine Trennung ist angezeigt, wenn einem der beiden Beteiligten über längere Zeit körperlich unwohl ist. Wenn er oder sie verspannt ist und unglücklich. Dann funktioniert die Sache leider nicht mehr.

STANDARD: Neben Chloe und Rasmus kommen noch Chloes Geliebter und Rasmus' Mutter vor. "Alle Frauen, die sich einen Mann halten, weil sie meinen, sie könnten nicht ohne ihn sein, unterschreiben einen Kontrakt, der sagt: Ab jetzt bist du seine Mutter." Ein Satz aus Ihrem Buch, den viele Frauen, zumindest heimlich, unterschreiben würden. Was machen Frauen da falsch? Warum fehlt so vielen der Mut zum eigenen Werk?

Berg: Da kommen wir zur Stagnation des Feminismus zurück. Trotz der kleinen Fortschritte, trotz einiger Regisseurinnen und Vorstandsvorsitzender gibt es noch immer wenige Frauen, die die Zukunft mitgestalten, einen wirklichen Einfluss haben. Weit entfernt von einer Halbe-halbe-Situation. Das Silicon Valley, wo gerade Zukunft geschrieben und erdacht wird, ist eine fast geschlossene Männergesellschaft. Warum ist das so? Gibt es diese gläserne Decke, oder gibt es weniger Frauen, die bereit sind, ihr Leben zu 100 Prozent einer Sache unterzuordnen? Sie sehen mich ratlos. Sind Frauen am Ende bequemer als Männer? Hindert sie ihr Wunsch, unbedingt von allen gemocht zu werden, der, wenn man das Haus verlässt, nie befriedigt werden kann? Ist es nicht möglich, Kinder und einen 100-Prozent-Job zu vereinen, oder wollen viele Mütter das nicht? Sicher ist, dass es viele Schlüsselpositionen gibt, egal auf welchem Gebiet, die man eben nicht in Teilzeit erledigen kann. Sähe es anders aus, wenn es auf der Welt selbstverständlich wäre, Kinderbetreuung nach dem ehemaligen sozialistischen Vorbild anzubieten? Ich schlage leise mit dem Kopf gegen die Wand.

STANDARD: Apropos Kopf gegen die Wand ... In einem Interview haben Sie einmal gesagt: Schriftsteller werden mit dem verwechselt, was sie schreiben. Ist Ihnen das ein unangenehmer Gedanke?

Berg: Ein klein wenig zucke ich immer noch zusammen, wenn das passiert. Fast zeitgleich mit meinem Buch erscheint die deutschsprachige Übersetzung des neuen Buches von Michel Houellebecq, der immer mal wieder mit meiner Arbeit in einen Zusammenhang gebracht wird. In der Rezeption hat sich aber wenig geändert. Die weibliche Autorin ist zynisch, sarkastisch, während der männliche Autor die Welt beschreibt und dafür bewundert wird. Aber am Ende der Gedanken steht immer die Einsicht, dass ich mich in Eitelkeiten verstricke und dass alles bald durch mein Ableben in ein Gleichgewicht geraten wird. Es wird egal sein.

STANDARD: Schon ganz immun gegen Kritik geworden?

Berg: Dann wäre ich Buddha.

STANDARD: Auf der Leipziger Buchmesse werden Sie Ihr neues Buch weiter vorstellen. Wie reagiert das Publikum auf diesen harten Tobak? Der Roman ist ja Anfang Februar erschienen. Welche Reaktionen gibt es bisher?

Berg: Die Leser sind bis jetzt begeistert. Wenn sie nicht zu jung sind. Ich habe gemerkt, dass wirklich junge Leser, also Anfang zwanzig, den realistischen Ton im Buch nicht goutieren und den Humor nicht lesen können, da sie noch an die unendliche Liebe glauben müssen. Das ist in Ordnung. Die meisten ab Dreißigjährigen haben sehr viel gelacht, und alle, alle haben sich wiedergefunden. Hervorragend!

STANDARD: In Ihrem letzten Roman, "Vielen Dank für das Leben", geht es um Toto, ein Waisenkind ohne klare Geschlechtszuweisung. Ohne jetzt alles in einen Topf zu werfen, aber weil demnächst in Österreich der Eurovision Song Contest stattfinden wird: Kennen Sie Conchita Wurst?

Berg: Persönlich nein. Aber ein sehr schlauer Mensch. Gefällt mir gut. Unsere Ideen von einer schönen neuen Welt (die wir alle nicht erleben), in der jeder gleichberechtigt ist, egal welchen Geschlechts, welcher sexuellen Orientierung, welcher Rasse er oder sie oder es ist, scheinen sich zu ähneln.

STANDARD: Sie haben immer betont, dass Schreiben ein Handwerk ist - sind Sie mit voranschreitendem Alter noch konsequenter in Ihrer Arbeit geworden? Macht Sie das Schreiben glücklich?

Berg: Mein Alter schreitet nicht voran. Was für eine irre Behauptung. Ich habe mich komplett gegen das Altern entschieden, und solche Späße wie Sterben werden bei mir nicht stattfinden. Mein Leben macht mich glücklich, sonst müsste ich es ja auch ändern. Schreiben, oder mir etwas ausdenken, inszenieren, es ist alles dasselbe. Ein großes Glück, das mir von den lieben Leuten ermöglicht wird, die meine Sachen kaufen, in meine Stücke gehen, zu meinen Veranstaltungen kommen.

STANDARD: "Wir ficken, weil wir nicht sterben wollen", schreiben Sie. Sie sind stets eine, die oft und schonungslos die Negativseiten des Älterwerdens aufschreibt. Wo liegen vielleicht Vorzüge?

Berg: Es hat doch, außer der Jugend, die mir in schrecklicher Erinnerung ist, jedes Alter etwas Nettes. Ich kann das gar nicht sagen, denn mir geht es immer besser.

STANDARD: Im Roman fällt auch der harte Satz: Wenn die Jungen vom würdevollen Sterben reden, dann meinen sie: Verzieh dich, ohne Theater zu machen! Wie erleben Sie die aktuelle Debatte um die Sterbehilfe? Wie erleben Sie das in der Schweiz, wo Sterbehilfe erlaubt ist?

Berg: Ich wäre für einen freien Zugang zu Sterbemitteln. Ohne jede Kontrolle. Mit einer Altersgrenze, denn als junger Mensch will man, hormonell bedingt, ein wenig zu leicht gehen. Später ist es Privatsache. Unbedingt und ohne Einschränkung. Die Möglichkeit des kontrollierten Zugangs zu Gift in der Schweiz ist mir zu wenig. Ich möchte nicht mit Ärzten und Psychologen reden müssen, wenn ich nicht mehr da sein will. Und alle Möglichkeiten, das mit einem Todeswunsch zu umgehen, beinhalten eine Zumutung für die Übriggebliebenen.

STANDARD: Frau Berg, danke für Ihre Offenheit. Und, weil wir hier nicht unbedingt mit den ganz letzten Dingen schließen wollen: Was hat Sie zuletzt glücklich gemacht?

Berg: Ich habe gerade in Berlin am Gorki-Theater zwei Veranstaltungen hintereinander mit der Band Kreidler und Christian Ulmen ausverkauft gehabt. Danach habe ich stundenlang unglaublich reizende Leser getroffen. Bald lese ich in Wien mit dem Idol meiner Jugend Dirk Stermann, im Sommer inszeniere ich das erste Mal. Es wird Frühling, und wenn ich morgen nach Hause komme, gibt es Nudeln mit Tofu. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 7./8.3.2015)