Jan Wagners "Regentonnenvariationen": Als der Dackel Verse sprach
Der in Berlin ansässige Lyriker zeigt sich in dem Band als beredter Freund von Tier und Pflanze
Es gibt für einen Dichter gewiss leichtere Übungen, als in das Fell eines Dachshundes zu schlüpfen. Jan Wagner (43) hat sich der Dackelprobe unterzogen. Und man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Wagners dachshund - so der Titel des entsprechenden Gedichts - ist das gescheiteste Tier, das sich denken lässt. Dieser artige Hund nimmt "depeschen aus duft" entgegen. Sein Blickfeld hätte man sich eigentlich bodennah vorgestellt. Doch Wagners Hund behält jederzeit den Überblick. Dieser Dackel besitzt mindestens Grundkenntnisse der Semiotik. Auch dürfte er über moderne Poesie einigermaßen Bescheid wissen.
Man kann nicht mit letzter Gewissheit sagen, was so ein braves Tier denkt. Insofern befindet sich der Autor auf der sicheren Seite. Wagners Dackel nimmt seine Umwelt als "ein system von zeichen" wahr. Damit nicht genug. Dieses besonders hochgezüchtete Exemplar fühlt sich von der Welt als denkendes Subjekt angesprochen.
"hierher!, rufen die disteln / mit ihren stachelfäustlingen (...)." Gut gebellt, Dackel! Ein besonders erlesener Vergleich folgt auf der Pfote. Unter den vielen Gegenständen, die den Jagdinstinkt des Dackels wecken, findet sich "sogar der aufgeplatzte fahrradschlauch / einer überfahrenen schlange". Das ist derart altklug ausgedrückt, dass es schon wieder verblüfft.
Jan Wagners "dachshund" hat das Zeug, unter die großen Gelehrten dieses noch jungen Jahrtausends gerechnet zu werden. Der Eindruck täuscht nicht. Wagner, eigentlich aus Hamburg gebürtig, ist heute in Berlin ansässig. Dort sticht er verlässlich aus der mit sich verzankten Poesieszene heraus. Auf den Hund kommt dieser unerhört tüchtige Lyriker nicht aus Prinzip. Viel häufiger noch betätigt er sich als Botaniker und Landschaftsgärtner. Gleich das erste Gedicht, ein allerdings sehr frei gehandhabtes Sonett, ist dem Giersch gewidmet.
Der, schreibt Wagner gleich zu Beginn, sei "nicht zu unterschätzen: der giersch / mit dem begehren schon im namen" wuchert verlässlich. Seine schneeweißen Blüten seien "keusch / wie ein tyrannentraum". Verblüfft sinnt man über die Schlafgewohnheiten von Gewaltherrschern nach. Das Bild ist suggestiv gewählt. Die Pflanze Giersch übt ihre Tyrannis auf verdeckte Weise aus. Giersch "kehrt stets zurück wie eine alte schuld". Er "schickt seine kassi- ber / durchs dunkel unterm rasen, unterm feld".
Man stutzt. Natürlich hat man schon von Diktatoren gehört, die, einmal hinter schwedischen Gardinen gelandet, Nachrichten nach draußen geschmuggelt haben. Aber um logische Schlussfolgerungen soll es im Weiteren nicht gehen. Die eigentliche Leistung des Sonetts Giersch liegt in der atemberaubenden Kettenbildung. Vom "knirschenden kies" hüpft der Text weiter zur "kirsche". Von dort ist es nicht weit zur "gischt", bis er "zum giebel kriecht". Bis er "schier überall sprießt", "giersch / sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch". Gedicht Ende.
Mit Augen wie Espressi
Reime vermeidet Wagner, wo er kann. Lieber paart er Versausgänge so, dass etwa "hund" mit "hand" zur Deckung gelangt. Man ist immer wieder ehrlich hingerissen von Wagners Klugheit. Dieser Autor ist ein Vielgereister. In drei esel, sizilien blicken uns die Langohren bewegungslos an, "jedes der sechs augen / stark wie ein espresso ...". Das sitzt. Vom Pausenbrot kommt Wagner aber auch zu den "sandwich-inseln". Nicht immer wird recht klar, worauf Wagner hinauswill.
Über die drolligen koalas weiß er auszusagen, sie seien "zerzauste stoiker", "verlauste buddhas". Was tut so ein stoisches, von Grund auf sympathisches Tier? Gar nichts. Es sitzt in seiner Astgabel und ist gegen die Lockungen der Welt ausreichend gefeit. "kein water- / loo für sie, kein gang nach canossa."
Nun gehört es vielleicht gar nicht zu den Gepflogenheiten von uns Menschen, ununterbrochen an den Canossagang zu denken. Es sei denn, der Sachgehalt, der uns gegenwärtig umtreibt, legt den Vergleich mit dem Gang nach Canossa nahe.
Jan Wagner, der über servietten ebenso formvollendet dichten kann wie über Frisiersalons, ist ein begnadeter Techniker der Poesie. Die Nominierung für den Leipziger Buchpreis sei ihm von Herzen vergönnt. Irgendwann einmal wird Wagners Dichten von einem Müssen zeugen, das seinem Können entspricht. (Ronald Pohl)
Jan Wagner, "Regentonnenvariationen. Gedichte".€ 16,40 / 112 Seiten. Hanser, München 2014
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Ursula Ackrills "Zeiden, im Januar": Ein Buch als Ort des Tumults
Bisher war Ursula Ackrill der Literaturszene unbekannt. Ihr Romanerstling hat das Zeug, das zu ändern
Ursula Ackrill ist eine Newcomerin in der Literaturszene. Mittlerweile in Nottingham lebend, wurde sie 1974 als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit der Siebenbürgener Sachsen in Kronstadt in Rumänien geboren. Nach dem Studium der Theologie und Germanistik in Bukarest ging sie nach England, wo sie über Christa Wolf promovierte und anschließend Informationsmanagement studierte, um sich als Bibliothekarin zu verdingen. Das könnte sich bald ändern, denn jetzt steht sie mit ihrem zu Jahresanfang erschienenen Romanerstling Zeiden, im Januar auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises.
Die Geschichte, die Ackrill darin vom Zusammenleben in einer kleinen Gemeinde in Siebenbürgen erzählt, spielt zwischen der vorletzten Jahrhundertwende und 1941 an den Orten ihres eigenen Heranwachsens. Was die Gegend zu jener Zeit zum Romanstoff qualifiziert? "In den folgenden Jahren war Zeiden ein Ort des Tumults. Als hätte jemand eine schärfere Lupe in seinen Ausblick eingelegt, brachte die im Vergleich zu Kronstadt kleinere Gemeinde die neue Zeit zum Vorschein." Die deutschstämmige Minderheit der Siebenbürgener Sachsen, die seit dem zwölften Jahrhundert hier siedelt und das Leben an diesem "südöstlichsten Vorposten" Europas nach dem Vorbild donauaufwärts zu kultivieren versucht (Wiener Kaffee, sächsisches Handwerk, deutsche Industrie), fühlt sich der rumänischen Mehrheit in jeder Weise überlegen: "Man lebte besser als die Rumänen und Zigeuner, denn man war ja auch fleißiger."
"Sie schafften künstliche Lebensbedingungen für eine Minderheit, die ansonsten in einer Mehrheit aufgegangen wäre", versucht Leontine, die Stimme der Vernunft, die Zeidener Sachsen ob ihrer Außenseiterposition zu ermahnen und zu warnen. Doch sie bleibt ungehört. Noch in derselben Nacht nehmen die Bukarester Pogrome ihren Anfang. Denn die deutschstämmige Minderheit sieht mit dem rumänischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg ihre Chance gekommen: Die Jungen wollen an der Seite Reichsdeutschlands kämpfen und hegen im Gegenzug die Erwartung, "vielleicht schon jetzt jener sagenhaften Gemeinschaft einverleibt zu werden, die uns nicht als Fremdkörper bekämpft". So stellt der Roman Fragen nach Nationalität und Nationalismus, Migration und Integration, Heimat(losigkeit) und (Nicht-)Zugehörigkeit, die so ähnlich auch angesichts aktueller migrationshintergründiger Gesellschaftsstrukturen noch drängend sind. Der Gedankenschritt zu den Unzufriedenen, die heute aus Europa in den Jihad ziehen, mag weit sein, aber nicht denkunmöglich.
Zeiden, im Januar ist ein Buchtitel wie eine Anmerkung, die man auf die Rückseite eines Fotos schreibt, über die Zeilen eines Tagebucheintrags, neben die Unterschrift auf einem Dokument: Ort und Zeit des Geschehens. Erinnernd und beglaubigend zugleich überschreiben sie jeden der fragmentarischen Teiltexte, die den Roman in achronologischer Anordnung als Momentaufnahmen aufbauen. Minuten, Tage oder Jahrzehnte können zwischen jenen liegen, wenige Meter, Kilometer oder halbe Kontinente. Bilderreich, anekdotisch und gleichzeitig den Anschein historischer Authentizität erweckend (viele der Figuren basieren auf realen Persönlichkeiten), konstruiert Ackrill zwischen Geschichtsstunde und Familienerzählung, Politik und Privatheit einen detailbedachten und sprachlich abwechslungsreichen Text, der angesichts der Ernsthaftigkeit seines Themas zuweilen gar seltsam verschwenderisch erscheint in seinen stimmungsvollen Situationsbeschreibungen und im Ausufern in entlegene, aber schmückende Handlungswinkel.
Zwar nie manieriert, aber doch irgendwie gestelzt, ist Ackrills Erzählstimme mitunter schwer zu erfassen. So ist am Ende jedes Satzes viel gesagt und scheint dieser mitunter doch wenig Greifbares in sich zu tragen. Es ist eine Sprache auch um der Sprache selbst willen. Für eine vom deutschen Sprachraum hunderte Kilometer entfernte Sprachkolonie konstruiert, wirkt diese Kunstsprache dennoch nie künstlich. Eher, dem Zeitkolorit entsprechend, ältlich. Dabei aber angenehm leichtgängig.
Das Schicksal der Rumäniendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist seit Atemschaukel der ebenfalls aus Siebenbürgen stammenden Herta Müller literarisch bekannt. Keine Vorgeschichte dazu und doch eine Art von Vorgeschichte liefert Ackrill. (Michael Wurmitzer)
Ursula Ackrill, "Zeiden, im Januar". € 19,90 / 256 Seiten. Wagenbach, Berlin 2015
Lesungen: 19. 3., 19.00, Uni Wien / Institut f. Osteurop. Geschichte, Spitalgasse 2; 20. 3., 19.30, Porgy & Bess
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Michael Wildenhains "Das Lächeln der Alligatoren": Ein Lob der Ratlosigkeit
Wildenhains Roman ist eine Melange aus Ennui, deutscher Zeitgeschichte und Kolportage
Vom Westberliner Autor Michael Wildenhain ist bekannt, dass der heute 56-Jährige gern auf autobiografische Elemente in seiner Prosa zurückgreift. So auch in seinem neuesten Roman Das Lächeln der Alligatoren. Wildenhain studierte einst in seiner Heimatstadt Informatik und Philosophie, war in den frühen Achtzigerjahren in der Hausbesetzerszene aktiv und beleuchtet seit seinem literarischen Debüt 1987 die Verwerfungen, Erkenntnisbrüche und zeithistorischen Veränderungen Deutschlands. Einer stattlichen Publikationsliste steht mittlerweile eine ansehnliche Zahl von Preisen und Stipendien gegenüber.
Matthias, der Protagonist in Das Lächeln der Alligatoren, sieht sich ebenfalls einer Fülle an Verwerfungen, Erkenntnisbrüchen und zeithistorischem Analysezwang gegenüber. Anfang der Siebzigerjahre ist er 14, macht mit seiner Mutter Urlaub auf der Insel Sylt. Dort lebt sein infolge einer Gehirnentzündung behinderter Bruder Carsten in einem Pflegeheim. Eine der Heimfreiwilligen ist die um mehr als drei Jahre ältere Marta, die Matthias pubertär verwirrt, anzieht, fasziniert, auch wegen ihrer erotischen Lässigkeit. Matthias' Vater, ein Vertreter, hat Mutter und Söhne sitzenlassen. Wenige Jahre später stirbt die Mutter, Matthias, keinen Kontakt zu seinem Bruder mehr findend, wird von seinem Onkel, einem Chirurgen und Medizinordinarius in Berlin, an Kindes statt angenommen.
Fünf Jahre später begegnen sich Matthias, inzwischen Informatikstudent, und Marta erneut. Sie ist inzwischen zeitbedingt sehr revolutionsbegeistert. Neben dem Erotischen spielt eine ebenso gewichtige Rolle der Kampf der Rote-Armee-Fraktion gegen den Kapitalismus und seine bürgerlich-revanchistischen Stützen. Marta überfällt mit zwei anderen Matthias' Ziehvater, sie wollen ihn entführen, er wehrt sich und wird von Marta erschossen. Alle drei werden verhaftet, abgeurteilt, inhaftiert. Und Matthias findet im Nachlass Dokumente, die belegen, dass der Mann, der ihn liebevoll großzog und ein intellektuelles Leitbild für ihn war, zur Nazizeit medizinische Experimente an Kindern durchgeführt hatte.
So verdienstvoll die seit einigen Jahren währende Treue des Stuttgarter Verlags Klett-Cotta zu Michael Wildenhain ist, so muss man berechtigterweise fragen: wieso eigentlich? Außer einer recht gekonnt eingesetzten Dramaturgie chronologisch zersplitterter Szenen bietet dieses Buch nichts an Überraschungen und kein einziges Argument dafür, es ohne äußeren Zwang bis zum Ende zu lesen. Die meisten Dialoge rascheln papieren vor sich hin, nicht eine einzige Figur wird lebendig. Im Gegenteil, es werden sämtliche gut abgehangene Klischees durchdekliniert, von der penetrant hervorgehobenen Carl-Schmitt-Lektüre des Mediziners inklusive unbelehrbaren Altnazi-Freunds bis zur Kiffer-WG, erotischer Libertinage und pubertärer Eifersuchtsratlosigkeit des von allem ratlos überforderten Matthias.
Am Ende flüchtet sich Wildenhain in die Arme der Kolportage, was die bis dahin funktionierende Dramaturgie endgültig zum Entgleisen bringt. Ein Zeitsprung um mehr als 20 Jahre: Matthias, inzwischen 45 Jahre alt, verheiratet, zwei wohlgeratene Kinder, hat soeben seine Antrittsvorlesung für einen Lehrstuhl an einem neu eingerichteten Institut für Neurowissenschaften zu Hamburg gehalten, da taucht Marta wieder auf, Marta, die vor mehr als 20 Jahren aus einem Hochsicherheitstrakt ausgebrochen und abgetaucht ist, sie verführt ihn, lotst ihn nach Sylt. Dort trifft er in dem Moment ein, als sein Bruder Carsten erstmals in einer Kirche öffentlich singt, begleitet von Marta an der Orgel.
Doch es handelt sich um einen "suicide by cop". Denn Matthias' Mobiltelefon, mit dem Marta vom Hotel aus die Bundesstaatsanwaltschaft angerufen hat, bringt eine Einheit von SEK-Polizisten nach Sylt, und Marta wird, nach einer - nicht vorhandenen - Waffe greifend, erschossen. Matthias weiß nun genauso wenig wie zuvor. Die Leserschaft ebenfalls. Und die Fragen "Hat sie ihn nur benutzt?", "Wer sind hier die lächelnden Alligatoren, wer ist Opfer, wer Täter gewesen?", "Wo liegt die Schuld: bei dem, der nicht sehen konnte, bei dem, der nicht sehen wollte?" sind so durchschaubar wie lächerlich. Hätte nicht jüngst Milan Kundera dem Berliner Autor den Titel Das Fest der Bedeutungslosigkeit weggeschnappt, der Roman Michael Wildenhains hätte umstandslos genau so überschrieben sein können. Weil er exakt das ist: lähmend banal. (Alexander Kluy)
Michael Wildenhain, "Das Lächeln der Alligatoren". Roman. € 20,50 / 248 Seiten. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2015
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Norbert Scheuers "Die Sprache der Vögel": Krieg und Sprache
Scheuers bemerkenswerter Roman über einen Bundeswehr-Obergefreiten in Afghanistan
In einem Roman des nach wie vor unterschätzten Schriftstellers Gerhard Meier (1917-2008) gibt es einen Bergwerksarbeiter, der in der Rente ins Malen kam. Er malt aber nicht etwa Kumpel oder gar die Zeche, "sondern (...) Dahlien zum Beispiel, überhaupt kleine Gärten, Wolken und Luft". Es ist dieser poetische Imperativ, der realen Welt eine künstlerische Gegenwelt entgegenzustellen, an dem Meier in seinem Werk - wie sein malender Rentner - hartnäckig festhielt. Genau das versucht auch Paul Arimond, die Hauptfigur in Norbert Scheuers Roman Die Sprache der Vögel.
Auch durch den Roman des 63-jährigen deutschen Autors über den Bundeswehr-Sanitätsobergefreiten Arimond in Afghanistan ziehen Vögel, Wolken und die Sehnsucht. Diese erzählerische Ausrichtung des in weiten Teilen in einer Region spielenden Romans, in der Deutschland, so die Sprachregelung, bis 2014 die "Freiheit der westlichen Welt" verteidigte, birgt Risiken. Denn mehr oder weniger misslungene Afghanistan-Romane gibt es in der deutschen Literatur einige. In Kriegsbraut (2011) etwa lässt Dirk Kurbjuweit eine Bundeswehrsoldatin am Hindukusch in eine Liebesgeschichte mit einem Afghanen taumeln, und in Linus Reichlins Das Leuchten in der Ferne (2013) erlebt ein Kriegsreporter auf Taliban-Suche sein blaues Wunder.
Norbert Scheuer, im Brotberuf Systemprogrammierer, der seit seinem Debüt 1994 ein schmales, konzentriertes Werk von acht Prosa- und Lyrikbänden vorlegte, nimmt sich nun des Themas auf eine vielschichtigere Art an. Ähnlich wie Kurbjuweit schildert auch er die extremen klimatischen Bedingungen und den von trügerischer Langeweile bestimmten Alltag im hochgesicherten Bundeswehrcamp. Die Lage wird bedrohlicher - auch auf den Patrouillenfahrten zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung oder zur Bergung verletzter und toter Kameraden. Es gibt im Buch nur zwei Passagen, einen Selbstmordanschlag und das Detonieren einer Mine unter einem Fahrzeug, in denen die direkten Auswirkungen des Krieges geschildert werden. Und das radikal.
Nach Effekten zu haschen ist Scheuers Absicht allerdings nicht, vielmehr lässt der Autor an diesen Stellen den Krieg im Außen in die zunehmend fragileren inneren Zustände seiner Figur einbrechen. Überhaupt spielt sich viel im Inneren des 24-jährigen Paul ab, meist sitzt er im Camp und tut das, was schon seine Vorfahren taten. Er beobachtet Vögel, klassifiziert und zeichnet sie. Doch zunehmend wird spürbar, wie Paul sein seelisches Gleichgewicht verliert. In der Nacht hört er Vogelstimmen, und drängend kreisen seine Gedanken um einen nahe dem Camp gelegenen See, den er erreichen will, was verboten und angesichts der Bewachung lebensgefährlich ist. Er wird es trotzdem tun.
Die in Form von Tagebucheintragungen erzählten Erlebnisse Pauls in Afghanistan, sie setzen am 14. April 2003 ein und brechen am 23. Mai 2004 ab, sind nur einer von fünf Erzählsträngen des zahlreiche Zeit- und Erinnerungsebenen eröffnenden Romans. In Einschüben wird von der Eifel erzählt. Dort leben Pauls Freundin Theresa, die ihm in seiner Abwesenheit entgleitet, und der von einem Unfall gezeichnete Freund Jan sowie Helena, eine ältere Frau, die durch Zufall in den Besitz von Pauls Tagebuch kommt. Diese Stränge lassen zusammen mit dem Schicksal von Pauls Urahn Ambrosius, der 1776 Afghanistan bereiste, um die Vogelwelt zu erforschen, die Umrisse einer Familiengeschichte plastisch werden. Und von Anfang an spürt man, dass es in diesem Buch ein Geheimnis gibt - und Gründe dafür, dass Paul nach Afghanistan ging. Man erfährt sie am Schluss.
Dass Krieg nicht nur für die von ihm Betroffenen, sondern auch, was die Propaganda an der "Heimatfront" betrifft, mit Sprache, dem Benennen zu tun hat, lässt sich in Swetlana Alexijewitschs Buch Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen nachlesen. Unter dem Datum vom 22. 5. 2014 notiert Paul im Tagebuch: "Irgendjemand redet immer, wir können nicht schweigend in unseren Betten liegen, (...) als müssten wir uns durch ständiges Reden vergewissern, dass wir leben und nicht (...) im Grunde ichlose Wesen sind, die in einem riesigen Vogelschwarm durch die Dunkelheit fliegen. (...) Ich erwähne Theresa, obwohl ich gar nicht über sie reden will. Ich darf ihnen nicht alles erzählen, denke ich, denn wenn ich alles erzähle, verschwindet es hinter den Worten." Der Gefahr des "zu viel" ist dieser bemerkenswerte Roman nicht erlegen. (Stefan Gmünder)
Norbert Scheuer, "Die Sprache der Vögel". € 20,60 / 423 Seiten. C. H. Beck, München 2015
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Teresa Präauers "Johnny und Jean": Die Welt in Bildern ausmalen
Die Autorin skizziert in ihrem Roman mit leichter Hand Szenen eines künstlerischen Werdegangs
Hier geht's zur Buchbesprechung zu Teresa Präauers "Johnny und Jean", die bereits im September 2014 im STANDARD erschienen ist.
(Album, DER STANDARD, 7./8.3.2015)