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Wenn man Pech hat, liegt die durch die berühmt-berüchtigte Lotterie zugeteilte Schule am anderen Stadtende.

Meinen Eltern fiel die Entscheidung nicht schwer: Die Geschwister und ich wurden in die Goethe-Volksschule geschickt, wie praktisch alle deutschsprachigen Kinder aus unserem Stadtteil in Bozen. Von dort ging es dann weiter auf die allgemeine Mittelschule, und erst danach, mit 14 Jahren, musste man aus den verschiedenen Oberschulzweigen den "richtigen" wählen. Ganz selbstverständlich besuchten auch meine Neffen und Nichten die Goethe-Schule. Die Entscheidung war für meine Geschwister ein "no-brainer", eine Sache, über die man sich kaum ernsthafte Gedanken machen muss.

Mittlerweile lebe ich mit Familie in San Francisco, und die Frage nach der richtigen Schule für die lieben Kleinen ist hier ein komplexes Thema, das vielen Eltern Albträume beschert. Für mich stand fest, dass wir unsere Kinder auf eine öffentliche Schule schicken wollten und nicht auf eine der zahlreichen, meist katholischen Privatschulen.

In den meisten kleineren Ortschaften in Kalifornien ist die Situation vergleichbar mit jener in Südtirol: Jedes Viertel hat eine Schule, die die Kinder aus der Nachbarschaft aufnimmt. Nicht so in San Francisco. Der San Francisco Unified School District (SFUSD) betreibt mehr als 70 öffentliche Volksschulen, sogenannte K-5 oder K-8, die sich qualitativ stark voneinander unterscheiden. Der einjährige Kindergarten ist Teil des Schulsystems und räumlich und organisatorisch einer Volksschule zugeteilt.

Ranglisten für Schulen

US-Amerikaner sind ja beinahe süchtig nach Statistiken, Ratings und Rankings, und daher ist es nur selbstverständlich, dass es auch für Volksschulen Ranglisten gibt. Die Reihung erfolgt über Noten von 1 bis 10. Die Benotung der Schulen basiert auf dem Abschneiden der Schüler in standardisierten Tests, dem sogenannten "API-Score". Zu jeder Schule finden sich sehr detaillierte Informationen im Internet: die ethnische Zusammensetzung der Schüler, der Anteil an Kindern mit nichtenglischer Muttersprache, der Bildungsgrad der Eltern oder auch die Durchimpfungsrate. Wenig überraschend befinden sich die meisten "Problemschulen" mit niedrigem API-Score in den ärmeren Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an afroamerikanischen und latinostämmigen Schülern.

Fundraising für unterfinanzierte Schulen

Die öffentlichen Schulen in Kalifornien sind chronisch unterfinanziert. Zwar wurden 2012 mittels Volksabstimmung eine zeitlich befristete Erhöhung der Einkommens- und der Umsatzsteuer zur Finanzierung des öffentlichen Schulwesens (vom Kindergarten bis zur Universität) beschlossen, dies ist jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Daher haben zahlreiche Schulen Fundraising-Programme, um zusätzliche Gelder einzuwerben. Diese Mittel werden dann autonom verwendet, etwa für die Finanzierung von Sprachprogrammen oder Kunstunterricht.

Fundraising und zahlreiche andere Veranstaltungen werden von der PTA organisiert, der "Parent Teacher Association". Nicht jede Schule hat eine PTA; besonders Schulen in Problembezirken mit einem hohen Anteil an alleinerziehenden Müttern oder Eltern, deren Muttersprache nicht Englisch ist, finden oft nicht genügend Freiwillige für diese ehrenamtlichen Aufgaben. Gerade jene Schulen, welche Zusatzfinanzierung am nötigsten hätten, erhalten diese nicht. Ein Teufelskreis.

Bonuspunkte für bessere Durchmischung

Die Aufnahme in die Volksschule erfolgt über ein komplexes Auswahlsystem – die berühmt-berüchtigte Lotterie, ein Computerprogramm, das verschiedene Parameter berücksichtigt. Zwar besteht die Möglichkeit, im Antragsformular des SFUSD die Lieblingsschule (oder mehrere) zu nennen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind in die erstgereihte Schule aufgenommen wird, ist allerdings sehr gering. Für manche beliebte Schulen gibt es mehr als 1800 Anmeldungen bei weniger als 100 verfügbaren Plätzen.

Der SFUSD vertritt die durchaus noble Idee, Ghettoisierung zu vermeiden und auch Schülern aus "Problemzonen" zu ermöglichen, eine besser gerankte Schule zu besuchen. Kinder aus den Stadtvierteln mit den niedrigsten Test-Scores erhalten im Lotteriesystem einen Bonus, einen sogenannten "Tie-Breaker", der ihre Chance auf eine bessere Schule stark erhöht. Ein weiterer "Tie-Breaker" sind Geschwister. Jüngere Kinder werden automatisch der Schule des älteren Geschwisters zugeteilt. Im Gegenzug werden dann freie Plätze in den Problemschulen mit Kindern aus anderen Stadtvierteln aufgefüllt.

Wenn man Pech hat, befindet sich diese Schule am anderen Stadtende und erfordert eine lange Anfahrt über die Hügel der Stadt. Die meisten Mitschüler wohnen natürlich ebenfalls in unterschiedlichen Vierteln, was gemeinsame außerschulische Aktivitäten nochmals kompliziert. Selbst US-Amerikaner lieben es nicht, stundenlang im städtischen Stop-und-go-Verkehr zu verbringen. Die größte Angst vieler Eltern ist, dass es ihre Kinder von einer schlechten Volksschule nicht auf eine gute Highschool schaffen. Und gute Noten auf der Highschool wiederum sind die Voraussetzung, um auf einer guten Universität aufgenommen zu werden.

In Berufung gehen – oder umziehen

Wenig überraschend also sind Eltern aus "guten" Stadtvierteln nicht begeistert, wenn die Lotterie ihr Kind einer rangniedrigen Schule zuordnet. Man kann nun in Berufung gehen und hoffen, dass sich das Ergebnis in einer zweiten Runde ändert. Spuckt der Computer wieder eine unerwünschte Schule aus, kommt es häufig zu folgenden Reaktionen: Das Kind wird auf eine Privatschule geschickt oder die Familie zieht in den Speckgürtel, wo die Wohnkosten niedriger und die öffentlichen Schulen oft besser sind als in San Francisco. Kein Wunder also, wenn viele Eltern nervös auf jenen Tag im März warten, wenn der Brief vom Schulamt mit den Lotterie-Ergebnissen eintrudelt.

Glück gehabt!

Wir hatten Glück. Unsere Tochter wurde in unserer Wunschschule akzeptiert. Mittlerweile besucht sie die erste Klasse, es gefällt ihr sehr, alles läuft rund. Und das Beste: Ihr kleiner Bruder muss nicht mehr durch die Lotterie. (Wolfgang Schweigkofler, derStandard.at, 5.3.2015)