STANDARD: Herr Präsident ...
Mujica: Pepe!
STANDARD: Gut ... Pepe, was ist mit Ihrer Nase passiert?
Mujica: Gestern habe ich mich mit einer Zange verletzt, als ich versuchte, einen Draht zu biegen. Ich bin zwar der Präsident, aber gestern fuhr ich mit einem Traktor herum und schaufelte Erde von hier nach dort. Kam dann schmutzig nach Hause, nahm ein Bad und versorgte die blutende Nase. Das ist menschliche Freiheit: dass man gelegentlich das tun kann, was einen glücklich macht. Ich lebe nicht auf dem Land, weil ich ein Exzentriker bin, sondern weil ich die Natur über alles liebe.
STANDARD: In den 1970er-Jahren kämpften Sie für politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Sie waren Mitbegründer der Stadtguerilla Tupamaros.
Mujica: Wir wollten eine perfekte Welt. Wir wollten, dass Menschen mehr zu essen, ein Dach über dem Kopf, bessere Gesundheit und Bildung haben. Nichts ist schöner als das Leben, und gleich danach kommt die Gesellschaft. Der Mensch braucht die Gemeinschaft. Er ist, anthropologisch gesehen, Sozialist.
STANDARD: Haben Sie die Ideen von damals an die Realität adaptiert?
Mujica: Man passt sich nie an die Realität an - sie ist zu komplex.
STANDARD: Sie haben die Homo-Ehe, die Abtreibung, das Recht auf Geschlechtsidentität eingeführt. Sie haben Arbeitslosigkeit, Armut und Kindersterblichkeit gesenkt.
Mujica: Die Linke scheint heute zu glauben, dass sie den Kampf um die Macht mit einer sozialen Agenda ersetzen kann. Das ist alles sehr gut. Ich unterstütze das natürlich. Aber der Schwarze, der wirklich beschissen dran ist, das ist der Schwarze in Armut. Und die Frau, die am meisten diskriminiert und gedemütigt wird, das ist die Frau in Armut. Dasselbe gilt für die Indigenen. Unser großes Problem sind die Klassenunterschiede. Man muss um die Macht kämpfen, um dann strukturelle Veränderungen herbeizuführen.
STANDARD: Man nennt Sie oft "den ärmsten Präsidenten der Welt".
Mujica: Wegen meiner Art zu leben: bescheiden, mit nur wenig Gepäck. Das ist meine bewusste Wahl. Wofür? Um Freizeit zu haben. Denn würde ich Geld anhäufen, müsste ich dauernd aufpassen, dass man mich nicht bestiehlt. Ich würde meine Zeit verschwenden. Und was man im Supermarkt nicht kaufen kann, das ist Zeit. Nun ja, vielleicht bin ich ein wenig Anarchist.
STANDARD: Was hat Ihre Regierung zu tun verabsäumt?
Mujica: Wir haben die Bildung vernachlässigt. Und in die Infrastruktur hätten wir mehr investieren sollen. Die Wirtschaft ist stark gewachsen, aber nicht so die Infrastruktur. Weiter hätten wir unbedingt ernsthaft eine Verfassungsreform anstreben sollen, um tiefgreifende Veränderungen herbeiführen zu können. Das Justizsystem repräsentiert die Bedürfnisse der dominierenden Klasse.
STANDARD: Sie haben einmal gesagt: "Ich saß 14 Jahre im Knast, aber ich hasse niemanden dafür." Wie geht das?
Mujica: Wenn man verstanden hat, was Klassenkampf, was Gesellschaft im Kern bedeutet, weiß man, dass die dreckige Arbeit, wenn sie nicht von diesem, dann von jenem verrichtet wird. Die Wärter und Folterer waren genauso Produkt der Umstände. Klar, dann kommt noch der Sadismus-Anteil hinzu. Der eine Mensch ist mehr, der andere weniger sadistisch. Ich habe während meiner Gefangenschaft Soldaten kennengelernt, die ihre Haut riskiert haben, um mir ein Gläschen Grappa oder einen Apfel zu bringen. Schwarz und Weiß - das existiert nicht. Dazwischen gibt es immer viele Grautöne.
STANDARD: Wie befreit man sich von diesem Erlebten?
Mujica: Ich bin dorthin zurückgekehrt, wo man mich gefangen gehalten hat. Militärs haben mich hingeführt. Es macht keinen Sinn, über die Vergangenheit zu grübeln, die Wunden zu lecken. Das Leben ist die Zukunft. Von der Vergangenheit soll man lernen, nicht von ihr begraben werden.
STANDARD: Keine Rachegefühle?
Mujica: Im Gegenteil. In meiner ersten Rede kurz nach der Freilassung sprach ich bereits davon: Hass macht dich blind.
STANDARD: Sie wurden für den Friedensnobelpreis nominiert ...
Mujica: Ich sagte denen, sie würden spinnen. Überall auf der Welt tobten Kriege, und man kam mir mit dem Friedensnobelpreis! Ich schlug ihnen vor, ihn doch post mortem Gandhi zu geben.
STANDARD: Ihre Amtszeit ist zu Ende. Und jetzt?
Mujica: Jetzt gehe ich aufs Grab zu. Natürlich ganz langsam (lacht). Der Tod ist Teil des Lebens. Man kehrt zurück zur Quelle. Aber bis das eintrifft, werde ich weiter politisieren. Ich halte nichts von einem Leben als Pensionist. Ich würde vor Traurigkeit in einer Ecke sterben. (Camilla Landbø, DER STANDARD, 2.3.2015)