Es grenzte an ein Wunder, würde der Mord an Boris Nemzow jemals aufgeklärt. Aber Wunder gibt es auch im heiligen Russland nicht, dessen Mythos Wladimir Putin für seine Zwecke instrumentalisiert. Außer man betrachtet es als Wunder, dass eben dieser Wladimir Putin, der mit seiner Politik Russlands Entwicklung zu einem modernen, prosperierenden Staat blockiert, bei mehr als 80 Prozent der Bevölkerung populär ist.

Auch Nemzow war, mit Blick auf seinen Werdegang, seine Politik in Spitzenpositionen und seinen Umgang selbst mit Gleichgesinnten, kein Heiliger. Aber er stand für einen Weg, der in die Gegenrichtung zum Putinismus weist: Öffnung, Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, Respekt vor dem Individuum wie vor den internationalen Regeln.

Es ist eine besonders bittere Ironie, dass Nemzow einst für das Amt des Regierungschefs im Gespräch war, das dann Putin zufiel, als Vorstufe zur Präsidentschaft. Man darf sich, mit aller Vorsicht, ausmalen, wo Russland heute stünde, wäre der einstige Gouverneur von Nischni Nowgorod und spätere Vizepremier unter Boris Jelzin zum Zug gekommen.

In einem ARD-Interview Ende 2014 bezeichnete Nemzow das heutige Russland als Mafiastaat mit einem Mafioso an der Spitze. Er war auch erklärter Gegner der Ukraine-Politik Putins und stellte in diesem Zusammenhang den Propagandakrieg des Kremls bloß: Die "Nachrichten" des Staats-TVs werden demnach nicht von unabhängigen Journalisten gemacht, sondern gemäß der Vorgaben aus dem Machtzentrum.

Was sich im Internet seit dem Mord an Nemzow abspielt, bestätigt diese Darstellung: eine großangelegte Desinformationskampagne unter anderem mit der Aktivierung hunderter Bot-Konten auf Twitter mit den zwei gleichen Sätzen: "Nemzow haben die Ukrainer umgebracht. Angeblich hat er irgendeinem Ukrainer die Freundin ausgespannt."

Wie absurd das auch klingen mag - es geht dabei nicht um Glaubwürdigkeit. Ziel der Medienstrategie des Kremls ist es, wie Insider schon vor Ausbruch der Ukraine-Krise enthüllt haben, ein Klima zu schaffen, in dem die Menschen nichts mehr glauben, alles für möglich halten und folglich für jede noch so haarsträubende Verschwörungstheorie empfänglich sind, und zwar nicht nur in Russland, sondern auch im Westen.

Allen Verschwörungstheorien steht ein Faktum gegenüber: Putins Regentschaft ist von unaufgeklärten Terrorakten und Mordfällen begleitet. Die Bombenanschläge auf Moskauer Wohnhäuser im Spätsommer 1999 nahm Putin als damaliger Premier zum Anlass für den zweiten Tschetschenien-Feldzug, der ihn wiederum Anfang 2000 ins Präsidentenamt brachte; seither starb eine Reihe prominenter Kreml-Kritiker durch Mord oder unter umgeklärten Umständen: Journalistin Anna Politkowskaja (2006); Ex-KGB-Agent Alexander Litwinenko (2006); Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa (2009); Anwalt Sergej Magnitski (2009); Oligarch Boris Beresowski (2013).

Putin nennt den Mord an Nemzow eine Provokation. Das soll heißen: Er wurde von seinen Gegnern inszeniert, um ihm zu schaden und der Opposition Auftrieb zu geben. Bei der für Sonntag in Moskau geplanten Kundgebung wollte Nemzow Neues zur Rolle der russischen Armee im Ukraine-Konflikt sagen. Dazu kam es nicht mehr. Das sind die Fakten in diesem neuen Akt der russischen Tragödie. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 2.3.2015)