In den vergangenen zwei Wochen hat sich die Doppelkrise, mit der es Europa zu tun hat, erheblich zugespitzt, und jedes Mal standen Deutschland und seine Kanzlerin mit im Zentrum der Versuche, die Krise diplomatisch zu lösen. Für Deutschland ist dies eine neue, ungewohnte Rolle.

Es war dem Versuch, die militärische Eskalation im Osten der Ukraine auf diplomatischem Weg durch ein zweites Abkommen von Minsk zu lösen, eine noch geringere Lebensdauer als Minsk I beschieden, und faktisch lief das Abkommen auf die Anerkennung der militärischen Teilung der Ukraine hinaus (wobei es bis heute völlig unklar bleibt, ob Putin auch die Einnahme von Mariupol beabsichtigt, um so eine Landbrücke zwischen Russland und der Krim herzustellen mit Eroberungsoption auf den Süden der Ukraine unter Einschluss Odessas bis nach Transnistrien).

Der russische Präsident hat mit Minsk II und unter Einsatz seines Militärs erreicht, was von Beginn an das Ziel der russischen Eroberungspolitik war: die faktische Abtrennung der Ostukraine und dadurch eine andauernde Destabilisierung des ganzen Landes inklusive der Zementierung des russischen Einflusses. Putin behält so die Finger in dem ukrainischen Teig. Minsk II spiegelte nur die militärischen Realitäten auf dem Boden wider. Es bleibt jedoch die Frage, ob Moskau die Europäer überhaupt ernst nimmt oder ob es nicht klüger gewesen wäre, die einzige Macht, die Putin tatsächlich ernst nimmt, die Verhandlungen führen zu lassen, nämlich die USA. Nach Lage der Dinge wird daran früher oder später allerdings kaum ein Weg vorbeiführen.

Dennoch war es richtig, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam und abgestimmt mit der EU und den USA diesen diplomatischen Versuch, wissend um dessen Risiken, unternommen haben. Minsk zeigte allerdings nicht nur das reale, d. h. dürftige machtpolitische Gewicht Europas, sondern zugleich auch die Unverzichtbarkeit der deutsch-französischen Zusammenarbeit wie auch die veränderte Rolle Deutschlands innerhalb der EU.

Diese Rollenveränderung kann man auch an der deutschen Bundeskanzlerin nachvollziehen, die unter dem Druck der Ukraine-Krise eine andere geworden ist: Seit zehn Jahren regiert Angela Merkel nun in Berlin, und diese waren überwiegend die Jahre eines neuen Biedermeiers in Deutschland gewesen. Die Sonne schien über dem Land und seiner Wirtschaft, und die Kanzlerin sah ihre vornehmste Aufgabe darin, die Deutschen in ihrem Wohlgefühl durch Politik nicht zu stören.

Wladimir Putin und die Griechenland-Krise wie auch das neue Gewicht Deutschlands in Europa haben dieses Merkel'sche Neobiedermeier nun brutal beendet, und man kann neuerdings eine Kanzlerin erleben, die ihre Politik nicht mehr nur in "kleinen Schritten" definiert, sondern strategische Bedrohungen ernst und annimmt.

Dies gilt im Übrigen auch für die Griechenland-Krise, in der die Kanzlerin, ganz entgegen dem öffentlichen Bild vor allem im europäischen Süden, keineswegs zu den Scharfmachern innerhalb ihrer Partei und in ihrer Regierung gehört. Merkel scheint sich der kaum beherrschbaren Risiken eines Grexit durchaus bewusst zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob sie auch die Entschlossenheit und die Kraft aufbringen wird, um endlich eine Revision der verfehlten Austeritätspolitik in der Eurogruppe unter dem Druck der Doppelkrise zu wollen. Ohne eine solche Revision in Richtung Wachstumsorientierung wird diese Krise nicht zu überwinden sein und Europa erschreckend schwach in seinem Inneren und nach außen bleiben. Angesichts des Angriffs auf Europa von außen ist dies eine bedrückende Perspektive, denn die innere Schwäche Europas und dessen äußere Bedrohung stehen im direkten Zusammenhang.

Die Griechenland-Krise zeigt auch, dass es sich bei der Euro-Krise um keine finanzielle handelt, sondern in ihrem Kern um eine Souveränitätskrise: Die Griechen haben sich mit der Wahl von Tsipras auch und vor allem gegen die Fremdbestimmung durch die Troika, durch Brüssel oder Berlin, zur Wehr gesetzt, zumal deren Medizin die Krankheit nur noch weiter verschlimmert hat. Andererseits soll Griechenland mit fremden Steuergeldern vor dem Bankrott gerettet werden. Und den Steuerzahlern und Parlamenten der Geberländer wird man kaum klarmachen können, dass weitere Milliarden Euro fließen sollen, um die griechische Zahlungsfähigkeit zu erhalten, ohne dass es dafür überprüfbare Garantien und notwendige Reformen gibt.

Der Konflikt um Griechenland zeigt, dass die Konstruktion der Währungsunion so nicht funktioniert, weil hier demokratisch legitimierte Souveränität gegen demokratisch legitimierte Souveränität steht und Europa an diesem Konflikt zu scheitern droht. Nationalstaaten und Währungsunion passen eben nicht wirklich zusammen. Dabei ist es recht einfach zu verstehen, dass der einzige geopolitische Gewinner eines Grexit in Moskau säße und es in Europa nur Verlierer geben würde!

Enorme Risken

Die geopolitischen Risiken sind in der Tat enorm und überwiegen bei weitem die innenpolitischen Risiken, die vorhanden sind, falls die Kanzlerin reinen Wein einschenken würde: dass Griechenland in der Eurozone bleiben wird, dass sie nicht zulassen wird, dass der Euro scheitert, dass dieses Ziel weitere Integrations- und nicht Desintegrationsschritte notwendig machen wird, bis hin zu Transfers und Schuldenvergemeinschaftung, so es gemeinsame Institutionen dafür gibt, etc.

Ja, es ist richtig, ein solcher Schritt wird Mut erfordern, aber was ist die Alternative? Ein Fortgang der inneren Krise der Währungsunion und damit der EU? Oder eine Rückkehr zu den Nationalstaaten (in Deutschland gibt es neuerdings eine nationalkonservative Partei, deren erklärtes außenpolitisches Ziel es ist, wieder eine nationale Außenpolitik zu betreiben, so, wie das vor 1914 (!!!) der Fall war)? Angesichts der dramatischen globalen Veränderungen und angesichts der direkten militärischen Bedrohung Europas durch Putins Russland sind diese Alternativen schlicht absurd und angesichts dieser Gefahren das griechische "Problem" doch ziemlich minimal.

Hollande und Merkel sollten ein weiteres Mal gemeinsam die Initiative ergreifen und endlich die Eurogruppe auf eine solide Grundlage stellen. Deutschland wird sich dabei beim Geld bewegen müssen, Frankreich bei der politischen Souveränität. Oder will man lieber weiter gemeinsam zuwarten, bis die Nationalisten innerhalb der EU immer stärker werden und Europa nach sechzig Jahren Erfolgsgeschichte dem Abgrund entgegentaumelt?

Copyright: Project Syndicate

(Joschka Fischer, DER STANDARD, 28.2.2015)