Noch mitten im Krieg sucht er telefonisch den Kontakt zur Heimat: Bradley Cooper als unbeirrbarer Scharfschütze Chris Kyle in "American Sniper".

Foto: Warner

Wien - Der Zeitraum zwischen der Wahrnehmung und der Handlung währt denkbar kurz. Zu lange zu zögern kann verheerende Folgen haben. Chris Kyle, Scharfschütze der Navy Seals, muss fast gleichzeitig sehen, verstehen und abdrücken. Auf solche Szenen, die das subjektive Dilemma des Krieges versinnbildlichen, kommt Clint Eastwood in American Sniper wiederholt zurück: da das höchst angespannte Gesicht von Darsteller Bradley Cooper in Großaufnahme, dort die in der Ferne liegende Szene im Visier seines Gewehrs. Der Held wird sich nicht irren. Jedes Mal behält er mit seiner Einschätzung recht - auch dann, wenn es sich um eine Frau und ein Kind handelt -, und jeder Schuss ist ein Treffer. Kyle wird am Ende der US-Schützenkönig des Irakkriegs sein, mit über 160 Toten. Eine lebende Legende.

An dieser Darstellung des Helden, der im Februar 2013 daheim in Texas erschossen wurde - Kyles Mörder Eddie Ray Routh, ein weiterer Veteran, wurde am Dienstag zu lebenslanger Haft verurteilt -, kann man sich aus mehreren Gründen stoßen. Weder entwickelt Eastwoods Film eine Vorstellung von den Grauzonen des Krieges, von den moralischen Abweichungen und der Gewalt, die auch in den Reihen der Amerikaner grassierte. Noch mag die Figur des Films mit dem realen, allem Anschein nach wesentlich fanatischeren Kyle allzu viele Übereinstimmungen besitzen: Der echte prahlte etwa damit, nach dem Hurrikan Katrina erfolgreich auf Menschenjagd gegangen zu sein.

American Sniper wurde dennoch (oder gerade deshalb) zum kulturellen Phänomen: In den USA gab es erregte Debatten um die angeblich agitatorische Seite des Films, seine Geschichtsverfälschungen auf der einen sowie Verteidigungsreden für den Patrioten Kyle auf der anderen Seite. Allein am US-Box-Office hat der Film über 300 Millionen Dollar eingespielt, bereits jetzt der größte Erfolg des 84-jährigen Regisseurs. Kein Kriegsfilm, schon gar keiner über den Irak, kam auf vergleichbare Zahlen: Kathryn Bigelows Oscar-prämierter The Hurt Locker stand am Ende gerade einmal bei einem Einspielergebnis von 17 Millionen Dollar.

Irakkrieg nur als Folie

Die Strahlkraft von American Sniper hat gewiss viele Gründe, doch der entscheidende liegt wohl in seinem Fokus auf dem (gebrochenen) Heroismus seines Einzelgängers - das Kernthema Eastwoods. Der Irak bleibt dafür im Grunde nur eine Folie, die Großaufnahme auf Kyle ist die wichtigere Einstellung. Eine Selbstbeschau: Eastwood, schreibt der französische Filmkritiker Stéphane Bouquet in seinem Buch über den Filmstar, lasse einen Amerika lieben, aber "wie ein Bedauern oder eine Ruine". Seine Filme erzählen von der Macht, die den Helden noch dann umgibt, wenn der Heroismus in der Welt nichts mehr gilt.

Eine Einschätzung, die in der Darstellung Kyles als fast naiver Überzeugungstäter durchaus ein Echo findet. Fassungslos starrt dieser am 11. September auf den TV-Schirm, um sich dann für den Militärdienst zu melden: Der Film zeigt die kalten Duschen bei der Ausbildung, die ihn abhärten; er begleitet ihn auf vier Fahrten in den Irak, die in immer gefährlichere (und persönlichere) Auseinandersetzungen mit dem Feind münden. Psychisch unbeschädigt kehrt er nicht zurück.

Kyles Glaube, das Richtige zu tun, bleibt dennoch unerschütterlich. Dabei konfrontiert ihn Eastwood durchaus mit Armeeangehörigen, die von ihrem Dienst demoralisiert wurden. Für diesen zumindest aus europäischer Sicht konsensuelleren Weg einer Erkenntnis interessiert sich American Sniper nicht: Eastwood überprüft den Heroismus am konservativen Beispiel, an jemandem, der an der Gegenwart des Bösen, an der Notwendigkeit von Gewalt festhält.

Das Fundament bilden die ersten, vielleicht stärksten Szenen des Films, in denen Eastwood vom Kriegseinsatz zurück in die Kindheit schneidet, wo Kyle von seinem Vater ein krudes Weltbild vermittelt wird: Es besteht aus Wölfen, Schafen und Schäferhunden. Letztere sind im Einsatz, die Unschuldigen vor den Niederträchtigen zu beschützen. Die Härte, die in diesen Bildern noch dem eigenen Milieu entgegenschlägt, blitzt später nur noch kurz auf: wenn Kyle eine Gartenparty als Kriegsschauplatz erscheint; oder wenn seine Traumata in der wachsenden Entfremdung von seiner Frau Taya (Sienna Miller) Widerhall finden.

Die Parallelisierung von Krieg und Alltagsleben ist schnörkellos, in übersichtlichen Bögen inszeniert. Doch die Empathie, um die Eastwood wirbt, funktioniert nur dann, wenn man bereit ist, sich auf seine Sichtweise einzulassen. Dann mag man wie er in Kyle einen der letzten aufrichtigen Cowboys sehen, der sich die falsche Arena gesucht hat. Ein Makel bleibt: Wie sein Held nimmt sich Eastwood zu wenig Zeit, die moralische Komplexität der Welt zu berücksichtigen. Bezeichnenderweise endet Kyles Einsatz im Irak in einem völlig undurchdringlichen Wüstensturm. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 26.2.2015)