In der Hafenanlage von Ceuta konnten Meeresbiologen eine erstaunliche Artenvielfalt entdecken. Erste Reihe: Seepferdchen, Purpurstern, Wurmschnecke; zweite Reihe: Diademseeigel, Kugelschwamm, Napfschnecke; dritte Reihe: Kauri, Napfschnecke, Koralle (jeweils v. li.).

Fotos: Universität Sevilla

Sevilla - Sie haben einen seltsamen Lebenslauf: Ihre frühste Jugend verbringen sie vagabundierend, nicht selten auf hoher See. Strömungen tragen die Winzlinge dann in weit von ihrem Geburtsort entfernt liegende Gefilde. Bald jedoch müssen die Larven sesshaft werden. Sie lassen sich auf festem Untergrund nieder. Wem dies nicht gelingt, der hat keine Chance. Die anderen dagegen verwandeln sich in kleine Napfschnecken und sind den Rest ihres Lebens ein Musterbeispiel an Standorttreue.

Europas Küstengewässer beheimaten insgesamt zehn verschiedene Napfschneckenarten der Gattung Patella. Viele Mittelmeerurlauber kennen sie. Man findet die Tiere festgeheftet auf Felsen und Steinblöcken, im Grenzbereich zwischen Wasser und Land.

Die Form ihrer Schalen erinnert an ostasiatische Sonnenhüte. Der Schalenrand indes ist perfekt an die Felsoberfläche angepasst. Jede Napfschnecke hat ihren Ruhefleck, wohin sie sich nach der Futtersuche zurückzieht und wo ihr Schutzpanzer nahezu nahtlos auf der harten Unterlage aufsitzt. Sämtliche Unregelmäßigkeiten sind in der Randstruktur gespiegelt. Dank solcher Überlebenstricks kommen einige Spezies wie zum Beispiel Patella vulgata weitverbreitet und in großer Zahl vor.

Patella ferruginea dagegen gilt als stark gefährdet. "Es ist eine Art, die sehr empfindlich gegen Verschmutzung ist", sagt der Meeresbiologe José Guerra-García von der Universität Sevilla. Ihre Verbreitung ist auf das westliche Mittelmeer beschränkt, und in mehreren Regionen wie der Côte d'Azur scheint sie inzwischen ausgestorben zu sein. Andernorts werden deutliche Populationsrückgänge gemeldet. Häufig lassen sich nur noch ein paar Dutzend Exemplare nachweisen.

Die Ursachen für das Verschwinden von Patella ferruginea sind wohl menschengemacht. Das Sammeln der Tiere spielt eine wesentliche Rolle, sagt Guerra-García. Die hübschen, bis zu elf Zentimeter langen Schalen werden gerne als Dekoration verwendet. Angler nehmen das zähe Schneckenfleisch manchmal als Köder. Abgesehen davon gibt es das Problem der an einigen Mittelmeerküstenabschnitten noch immer bedenklich starken Wasserverschmutzung. Sie hat vermutlich mehreren Beständen der seltenen Napfschnecken schwer zugesetzt.

Um so erstaunter waren Guerra-García und seine Kollegen, als sie im Hafen der spanischen Exklave Ceuta auf der nordafrikanischen Seite der Straße von Gibraltar rund 4000 Patella ferruginea entdeckten. Die Tiere siedeln dort auf Uferbefestigungen, zum Teil mehr als sechs Individuen pro Quadratmeter. Weitere 10.000 leben auf benachbarten Wellenbrechern an der offenen Küste.

Die Wissenschafter gingen der Sache auf den Grund. Sie unterzogen nicht nur die Hafenanlagen von Ceuta, sondern auch diejenigen von Gibraltar, Algeciras und anderen Orten der Region einer rigorosen Suche. Bis in eine Tiefe von 20 Metern wurde die gesamte Fauna inventarisiert. Die Ergebnisse zeigen eine vielerorts verblüffende Vielfalt.

Von Seepferd bis Hummer

Vor allem Steinschüttungen sind oft wahre biologische Schatzkammern. Neben Patella ferruginea beherbergen sie andere seltene Weichtiere wie die Tritonschnecke, Korallen, Seepferdchen und viele weitere Spezies. Sogar die chronisch überfischten Hummer fühlen sich zwischen den Blöcken wohl. Die Diversität ist allerdings nicht überall gleich ausgeprägt. Glatte Betonmauern bieten deutlich weniger Arten einen Lebensraum als die Anhäufungen von Felsbrocken. Zudem sind einige Häfen schlicht zu stark verschmutzt. Ceuta ist da ganz anders. Zwar landen auch hier allerlei Abfälle und Schadstoffe in den Docks, berichtet Guerra-García, doch der Dreck sammelt sich nur in den Sedimenten am Boden an.

Das Wasser dagegen bleibe recht sauber und sauerstoffreich. Der Grund: Die Hafenanlage verfügt nicht nur über eine Einfahrt, sondern auch über einen Entwässerungskanal. Dadurch können die Gezeitenströmungen das Becken durchspülen. "Das zeigt, wie man die Auswirkungen von Verschmutzung minimieren kann", sagt Guerra-García. "Die Artenvielfalt wird letztlich vom Sauerstoffgehalt bestimmt."

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor. Das Hafenareal ist zum Teil für die Öffentlichkeit gesperrt. Genau dort fanden die Biologen die meisten großen Exemplare von Patella ferruginea. Sie spielen für den Fortbestand der Art die entscheidende Rolle. Denn Napfschnecken sind sogenannte protandrische Hermaphroditen. Nach Erreichen der Geschlechtsreife sind die Tiere zunächst männlich und verwandeln sich nach einigen Jahren in Weibchen. Je größer, desto mehr Eier produzieren sie. Wenn solche Individuen verschwinden, kann ein Bestand schnell kollabieren.

Population mit Potenzial

Die Population in Ceuta dagegen ist vital und zeigt sogar Ausbreitungspotenzial. Das Forscherteam wies Patella ferruginea auch in mehreren Häfen an der Südküste der Iberischen Halbinsel nach. Mit zunehmender Entfernung von der Straße von Gibraltar nimmt die Anzahl der Tiere allerdings stark ab. Möglicherweise entstammen sie alle dem dortigen Vorkommen. Es dient als Reservoir und könnte somit die Keimzelle einer erneuten Besiedlung sein - wenn andernorts die Lebensbedingungen wieder gut genug sind.

Ihre Beobachtungen haben die Experten auf eine Idee gebracht. Hafenanlagen und Küstenschutzbauwerke, die von seltenen Tierarten besiedelt worden sind, sollten zu Mikroreservaten erklärt werden, meinen die Forscher. Viele andere solcher Areale ließen sich über die Einrichtung von Durchflussrinnen und ähnlich kostengünstigen Maßnahmen ökologisch aufwerten. So entstünde ein Netzwerk kleiner Schutzgebiete für Meeresorganismen.

Man spreche bereits mit Regierungsvertretern und Behörden. Doch es sei auch schon Kritik laut geworden. Manche Umweltschützer befürchten, die Pläne könnten als Vorwand für den Bau von noch mehr Yachthäfen und dergleichen dienen. "Das ist absolut nicht in unserem Sinne", betont Guerra-García. Der Erhalt verbleibender natürlicher Lebensräume müsse unbedingt Vorrang haben. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 25.2.2015)