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"Ich arbeite gerne!", steht auf der Wand eines Abrisshauses in Eutin, Deutschland. Viele der sogenannten Neet-Jugendlichen haben ihren Arbeitswunsch bereits aufgegeben.

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Johann Bacher (55) ist Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Dort forscht er über Bildung und jugendsoziologischen Themen.

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STANDARD: Europaweit sind Arbeitslosigkeit und mangelnde Perspektiven unter Jugendlichen in den letzten Jahren zu einem großen Problem geworden. Die Wissenschaft hat in diesem Kontext den Begriff Neet, der für "Not in Education, Employment or Training" steht, geprägt - wie kam es dazu?

Johann Bacher: Der Indikator Neet dient dazu, jene Jugendlichen zu erfassen, die ausgrenzungsgefährdet sind - die nicht in die Schule gehen und nicht berufstätig sind. In Großbritannien stieg die Jugendarbeitslosigkeit in den 80ern rasant an. Die Betroffenen meldeten sich jedoch nicht mehr arbeitslos. Um sie zu erfassen, wurde Anfang der 90er-Jahre erstmals der Begriff Neet eingesetzt. Um 2000 wurde er in Japan aufgegriffen, wo wirtschaftliche Schwierigkeiten die Jugendarbeitslosigkeit ansteigen ließen. Da die Arbeitslosenrate nur einen Teil des Problems erfasst, bedienen wir uns in Österreich seit 2010 des Neet-Indikators. Eine wissenschaftliche Beschreibung des Phänomens ist Voraussetzung dafür, es politisch in den Griff zu bekommen.

STANDARD: Österreich gilt, nicht zuletzt wegen der dualen Ausbildung in der Lehre, als Positiv-Beispiel - hierzulande gibt es vergleichsweise wenige Neets. Haben wir denn überhaupt ein Problem?

Bacher: Im internationalen Vergleich schneidet Österreich gut ab: Wir haben derzeit rund 75.000 Jugendliche, die weder arbeiten noch zur Schule gehen. Nicht alle sind von Ausgrenzung gefährdet. Zehn Prozent befinden sich in Warteposition, wie Maturanten. Die Gruppe der Neet-Jugendlichen ist klein - und sehr heterogen. Umgekehrt gibt es ausgrenzungsgefährdete Jugendliche, die der Neet-Indikator nicht erfasst, wie prekär beschäftigte Jugendliche.

STANDARD: Wie gelingt es, diese vielschichtige Gruppe zu beschreiben?

Bacher: Wir haben sieben verschiedene Neet-Gruppen identifiziert. Darunter sind: Jugendliche mit psychischen Beeinträchtigungen, junge Mütter mit Betreuungspflichten, Migranten und Lehrabsolventen am Land, die keine Anstellung finden. Die Hauptursache dafür ist eine geringe Bildung.

STANDARD:... die in Österreich immer noch stark vom Elternhaus abhängt. Können Maßnahmen zur sozialen Durchlässigkeit, wie die Gesamtschule, Ausgleich schaffen?

Bacher: Die Gesamtschule - das zeigen internationale Studien - führt dazu, dass sich die Gruppe der Neet-Jugendlichen anders zusammensetzt und ihr häufiger auch Jugendliche aus höheren sozialen Schichten angehören würden. Die Anzahl der Risikoschüler würde aber in etwa gleich bleiben. Sinnvoll sind hingegen Angebote wie die Ganztagsschule. Sie müsste ausgebaut werden.

STANDARD: Wie steht Österreich hier da?

Bacher: Der Ausbau ist sicher nicht in dem Umfang erfolgt wie geplant. Da ist noch viel Luft nach oben. Vor allem verschränkte Formen von Ganztagsschulen, die eine regelmäßige Teilnahme einfordern, wurden noch kaum diskutiert.

STANDARD: Kann die gesetzliche Ausbildungspflicht bis 18 Abhilfe schaffen?

Bacher: Auf jeden Fall, da sie Jugendlichen eine zweite oder sogar dritte Chance eröffnet. Vorrangiges Ziel im Bildungsbereich insgesamt sollte eine Verbesserung des Unterrichts sein. Viele Schulabgänger sind nicht fähig, einfache mathematische Rechenaufgaben zu lösen. Ein guter Unterricht bedeutet, den Schülern anspruchsvolle Aufgaben und Feedback zu geben. Notwendig ist zudem ein gutes Klassenmanagement, damit Unterrichtsstörungen abnehmen, Schüler sich wohlfühlen und gerne lernen. Klar ist aber, dass die Ursachen für einen Schulabbruch nicht nur in der Schule zu suchen sind. Gefährdete Schüler sind zu Hause oft mit Problemen konfrontiert. Das kann natürlich dazu führen, dass sie in der Schule negativ auffallen.

STANDARD: Braucht es mehr Sozialarbeiter in den Schulen?

Bacher: In Oberösterreich wurde ein Modell der Sozialarbeit eingeführt, im Rahmen dessen Sozialarbeiter in Schulen mit einem hohen Anteil an schwierigen Schülern einmal pro Woche anwesend sind. Sie führen Gespräche mit den Jugendlichen und mit den Eltern und klären ab, was das Problem ist. Lehrkräfte berichten, dass dadurch das Unterrichten leichter wurde.

STANDARD: Sie schlagen auch vor, dass Schulen mit schwierigeren Ausgangsbedingungen mehr Ressourcen zugeteilt werden.

Bacher: Politisch gibt es zwei Maßnahmen: Entweder man legt Quoten fest - oder man weist benachteiligten Schulen mehr Mittel zu. Mein Vorschlag ist, dass Problemschulen mehr Geld bekommen, über das sie frei verfügen können.

STANDARD: In Kanada und Schweden erhalten Schulen in Brennpunktregionen bereits mehr Geld. Sind dort positive Effekte auf die Neet-Rate festzustellen?

Bacher: In den Niederlanden gibt es generell weniger Risikoschüler, wobei vermutlich der Sozialindex eine Ursache dafür ist. Aber die Neet-Rate hängt nicht nur vom Schulabbruch ab, sondern auch von der Konjunktur und der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Österreich hat ja eine sehr geringe Rate - und muss sich sehr intensiv anstrengen, um sie weiter zu reduzieren.

STANDARD: Welche arbeitsmarktpolitischen Reformen braucht es?

Bacher: Wichtig wäre eine umfassende Arbeitszeitverkürzung. Jugendliche, die über eine geringe Bildung verfügen, sind auf einfache Tätigkeiten angewiesen - aber diese brechen schrittweise weg. Die Arbeitszeit müsste umverteilt und ein Lohnausgleich bei Niedriglöhnen geschaffen werden. Außerdem braucht es Nachbetreuung, die gewährleistet, dass Jugendliche, die einmal den Weg in den Arbeitsmarkt gefunden haben, nicht mehr hinausfallen.

STANDARD: Wie sind die wissenschaftlichen Herausforderungen beim Thema?

Bacher: Zunächst gilt es, den Indikator vorsichtig und kritisch zu verwenden. Eine weitere Herausforderung ist, eine Gruppe zu untersuchen, die schwer erreichbar ist. Wir haben es über Vereine und psychologische Beratungsstellen versucht. Das hat aber den Nachteil, dass Personen, die sich nicht an diese Einrichtungen wenden, nicht erfasst werden können. Schließlich finde ich, dass die Sozialforschung nicht dabei stehenbleiben darf, die Neet-Zahlen zu schätzen. Es bringt nichts, zehn Jahre lang zu dokumentieren, dass die Schule selektiv ist. Wir müssen mit Praktikern, Politikern und der Verwaltung zusammenarbeiten, um soziale Probleme zu lösen. (Lisa Breit, DER STANDARD, 25.2.2015)