Der Maidan ist zur Chiffre geworden für den Versuch eines demokratischen Aufbruchs, der in einen geopolitischen Konflikt mit ungewissem Ausgang mündete. Als am Freitag auf dem Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew der blutigen Ausschreitungen vor einem Jahr gedacht wurde, war in den Mienen der Menschen deshalb nicht nur Trauer um die 100 Todesopfer von damals zu sehen, sondern auch quälende Sorge um die Zukunft des Landes.
Zum Wesen von Trauerfeiern gehört es, dem Gedenken einen würdigen Rahmen zu geben und Kraft zu tanken für einen neuen Anfang. Beides war am Freitag auf dem Maidan nahezu unmöglich. Die Erinnerung an die Toten wird torpediert vom Streit um die Aufklärung der Todesschüsse und überschattet von den tausenden Toten des Konflikts in der Ostukraine. Und die Hoffnung auf einen demokratischen Neubeginn wird zerrüttet von der wirtschaftlichen Misere und von der Gewalt im Osten, der die territoriale Integrität der Ukraine längst zum Opfer gefallen ist.
Am Freitag galt es, hundert Tote zu betrauern, die vor einem Jahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gegangen sind. Ihr Andenken aber wird von gegenseitigen Ränkespielen rund um die Todesschüsse und von nationalistischem Ungeist geschändet. Die Gedenkfeiern auf dem Maidan wurden dadurch erst recht zum Symbol der ukrainischen Tragödie. (Gerald Schubert, DER STANDARD, 21.2.2015)