Eine Zauberlandschaft, so erstarrt wie die einsamen Figuren darin: Nuri Bilge Ceylans "Winterschlaf" studiert den Selbstbetrug einer bürgerlichen Hoteliersfamilie.

Foto: Stadtkino

Wien - Ein kleines Königreich sei es, in dem er lebe, aber immerhin sei er darin der König. Aydin (Haluk Bilginer) versteht es geschickt, seine bürgerliche Existenz mit schönen Worten zu verteidigen. Die falsche Bescheidenheit gibt seinem Kleinmut einen Anflug von Größe. Doch die Selbstgefälligkeit schimmert immerzu durch. Wenn er seine wöchentlich in einer Provinzzeitung erscheinende Kolumne vorträgt, in der er über den Werteverlust des Landes lamentiert, wird klar: Der einstmalige Theaterschauspieler hält gerne vor Zuhörern Reden. Jetzt ist Aydin Inhaber eines in den Felsen gehauenen Hotels in Kappadokien, in dem vor allem Ausländer nächtigen. Auch deshalb ist es nicht verkehrt, ihn als Höhlenmenschen zu bezeichnen. Sein Blick auf die Außenwelt ist etwas eingeschränkt.

Winterschlaf (Kis Uykusu) heißt der Film des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan, mit dem er 2014 die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat. Ein treffender Titel - nicht nur aufgrund der Jahreszeit, die die archaisch anmutende Landschaft wie erstarrt aussehen lässt, sondern vor allem wegen der Figuren, die um sich selbst kreisen. Außer Aydin sind das noch seine viel jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) und seine Schwester Necla (Demet Akbag). Eine Nachsaison von aus dem Lot geratenen Beziehungsformen: Ein jeder weiß um die wunden Stellen des anderen, los lässt dennoch keiner.

Es passiert selten im Kino, dass man den Eindruck einer literarischen Erfahrung, dieses gemächlichen Eintauchens in die Gedankenräume von Figuren gewinnt. Das soll nicht heißen, dass Ceylans Stil unfilmisch ist, im Gegenteil: Die langen dialogisch aufgebauten Szenen des Films, der insgesamt ein wenig über drei Stunden dauert, vermitteln die Sicherheit eines Regisseurs, der seine Mittel so exakt wie einprägsam einzusetzen weiß. Die Settings, oft düstere, aber pointiert ausgeleuchtete Innenräume, sind überschaubar; die Gefühlslagen und sublimen Manöver aller Beteiligten umso komplizierter.

Die Lektüre von Tschechow habe ihn beim Schreiben inspiriert, hat Ceylan über seinen Film erzählt. Davon kündet nicht nur der offensichtliche Überdruss, der Necla etwa befällt, weil sie die Metropole Istanbul gegen das Landleben eingetauscht hat. Mehr noch erinnert daran die Vivisektion der moralischen Haltungen eines (mit sich selbst) unzufriedenen Bürgertums: Während Nihal ihre erkaltete Liebe zu Aydin und die daraus entstandene Leere mit philanthropischem Engagement überbrückt, versucht sich dieser gegen den Vorwurf der Unaufrichtigkeit zu wehren.

Oberflächlich wie Olivenöl

In Weltanschauungen und falschem Bewusstsein liegende Verfehlungen freizulegen, dies verlangt besonders genaue Beobachtungsgabe. Wie macht man den Feind im Inneren sichtbar? Die Gräben zwischen den Figuren sieht man in Winterschlaf schon daran, wie Ceylan die Menschen im Raum platziert. Fast nie sitzen sie sich direkt gegenüber. Die Schwester kritisiert die Scheinheiligkeit des Bruders aus der Position einer Couch - hinter seinem Rücken: "Wie Olivenöl treibst du immer an die Oberfläche." Nihal wiederum nimmt in der anderen Ecke des Zimmers Platz, um Aydins Bevormundung besser widerstehen zu können.

Der Imam hockt wiederum mit viel zu kleinen Pantoffeln vor dem Schreibtisch des Gutsherrn. Mit dessen Anliegen gelangt auch jene andere, bäuerliche Klasse in den Film, die ungleich existenziellere Nöte plagen. Der Bruder ist ein aufbrausender Alkoholiker, der Enkel hat einen Stein auf den Land Rover Aydins geworfen, als wären die Geldschulden bei diesem noch nicht genug. Ceylan macht daraus jedoch kein Sozialdrama, er ergreift nicht Partei, sondern setzt tiefer an, bei den quasifeudalen Strukturen, die auch die moderne Türkei noch prägen; bei der Arroganz, die bestehende Verteilung der Güter als eine natürliche zu betrachten.

Trotz dieser triftigen Einsichten zeigt Ceylan Ironie, eine Milde gegenüber menschlichen Schwächen, die erst seinen Humanismus bezeugt - ein weiteres Verdienst dieses reichhaltigen Films. Aydin bleibt ein König, über den man immer wieder lächeln muss. In Erinnerung bleibt, wie er auf Mitmenschen blickt: Am liebsten lugt er verstohlen über Mauervorsprüngen oder hinter Ecken hervor. Oder wie er sich einmal vor allem selbst seine Uneigennützigkeit beweist und ein wildes Pferd, das eingefangen wurde, wieder in die Freiheit entlässt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 21.2.2015)